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Judastöchter

Titel: Judastöchter
Autoren: Markus Heitz
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nur aus den Sendungen geworden, in denen lustige Grimassenschneider Kinder zum Lachen brachten? Schaut denn heute keiner mehr Dick und Doof?«, murmelte sie und warf einen Blick auf die Überwachungsmonitore der verschiedenen Maschinen, an die Emma Karkow angeschlossen war.
    Alle Anzeigen waren so, wie sie sein sollten, die Frau lebte, war physisch auf dem Weg zu bester Gesundheit. Die Knochenbrüche und Verletzungen vom Sturz heilten – aber ihr Verstand wollte den Weg ins Hier und Jetzt nicht finden. Der Aufprall aus großer Höhe hatte tiefere Spuren hinterlassen.
    »Beim Erfrieren ist es so, dass man das Gefühl hat, immer müder zu werden«, sagte Hildegard widerstrebend. Sie wusste nur zu gut, dass sich Elena die Informationen woanders beschaffen würde, wenn sie von ihr keine Auskünfte bekam. »Mal abgesehen davon, dass einem sehr, sehr kalt ist. Irgendwann schafft es der Körper nicht mehr, genug Wärme zu produzieren, und dein Kreislauf … Egal, du wirst jedenfalls müde und schläfst dann ein. Wenn man dich nicht rechtzeitig findet, stirbst du an Unterkühlung.«
    »Aha«, machte Elena und klang zufrieden. »Es tut also nicht weh?« Sie kam ins Zimmer und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett ihrer Mutter.
    »Du hast keine echten Schmerzen, würde ich sagen, aber das starke Frieren stelle ich mir fürchterlich vor. Erlebt habe ich es noch nicht.«
    »Danke, Schwester Hildegard.«
    »Keine Ursache, Schätzchen. Versprich mir, dass du jetzt keine Fragen mehr über das Sterben stellst, ja?«
    »Warum denn nicht?«
    »Herrgott! Weil es … also, für dein Alter …« Die Krankenschwester fühlte sich hilflos. »Du bist eigentlich viel zu jung dafür. Du müsstest mich nach neuen Puppen oder nach einem Comic fragen, aber doch nicht …« Hildegard nahm einen Pudding aus der Kitteltasche, den sie für ihre Mittagspause aufbewahrt hatte, und reichte ihn Elena. Noch so ein Zeichen ihrer Überforderung: Bestechung anstelle von Argumenten. »Hier. Und jetzt vergiss das mit dem Tod.«
    »Vielen Dank, aber den mag ich nicht. Der schmeckt immer so sandig. Gib ihn lieber Opa Paschulke aus Zimmer 412, der isst ihn gern.« Elena blies den hellen Pony in die Höhe, zog einen Müsliriegel aus der Tasche, packte ihn aus und aß, während sie mit der anderen Hand die Rechte ihrer Mutter nahm und sie hielt.
    Hildegard ging zur Tür und verharrte kurz, sah zu den beiden und musste gerührt schlucken. Elena erzählte der Komatösen mit vollem Mund und voller Begeisterung, was sie heute in der Schule alles gemacht hatten, welche Hausaufgaben sie erledigen musste und mit wem sie sich später treffen wollte.
    Sie ist schon sehr reif für ihr Alter,
dachte sie und trat hinaus auf den Flur, um Opa Paschulke den Pudding zu bringen.
Hoffentlich wird ihre Mutter wieder wach.
    Im Schwesternzimmer trug sie alle Werte in eine Tabelle ein und sah, dass die Temperatur von Emma Karkow unregelmäßig anstieg und fiel. Das sprach dafür, dass sie eine Entzündung im Körper hatte, aber die Bluttests ergaben keine erhöhten Leukozyten oder andere Anhaltspunkte. Infusionen, Medikamente, nichts brachte die Körpertemperatur dauerhaft auf einen normalen Wert.
    Hildegard nahm den pinkfarbenen Marker und hob Karkows hohe Temperaturen hervor. Sie würde einen entsprechenden Vermerk an den Oberarzt machen. Das war nicht normal.
    Sie sah auf die Anzeigen, die aus dem Krankenzimmer direkt zu ihnen auf die Monitore übertragen wurden. Alles bestens. Die kleine Kamera über dem Bett zeigte eine ruhige Patientin und ihre Tochter, die immer noch gleichzeitig erzählte und aß.
    Es hatte Hildegard überrascht zu hören, dass ihr
Todesengel Sia
eine Schwester und eine Nichte hatte.
    Sarkowitz übernahm freiwillig die Nachtsitzwachen im Krankenhaus, auf den unterschiedlichsten Stationen. Je nachdem, wo es gerade an Leuten mangelte. Das Bizarre daran war, dass sobald Sia sagte, ein Mensch würde nicht mehr lange leben, dann war es auch so. Unabänderlich und ungeachtet aller Diagnosen.
    Anfangs hatte Hildegard sie in Verdacht gehabt, eine von denjenigen Psychopathinnen zu sein, die Kranke umbrachten, aber ihre Zweifel legten sich bald. Jeder war an den Folgen seiner Krankheit gestorben. Nachweisbar. Könnte Sarkowitz die Lottozahlen mit der gleichen Präzision vorhersagen, wäre sie Multimillionärin, aber mit Todesvorhersagen verdiente man kein Geld.
    Die Kleine war für Hildegards Geschmack zu viel bei ihrer Tante. Sie schüttelte sich. Es war kein
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