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Josef und Li: Roman (German Edition)

Josef und Li: Roman (German Edition)

Titel: Josef und Li: Roman (German Edition)
Autoren: Anna Vovsova
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bündig, schaute Helena Bajerová durchdringend an und fügte hinzu: »Wahrscheinlich stirbt sie.«
    Diese drei Worte zischten durch das Klassenzimmer wie ein herabsausendes Schwert. Wie eine Angel, die plötzlich aus dem Wasser schnellt. Und am Haken zappelt es heftig. Helena Bajerová senkte den Blick und hob ihn bis zum Ende der Stunde nicht mehr.
    Wahrscheinlich stirbt sie, wahrscheinlich stirbt sie, wahrscheinlich stirbt sie, wahrscheinlich stirbt sie, wahrscheinlich stirbt sie, wahrscheinlich stirbt sie, die Widerhaken dieser Worte bohrten sich immer tiefer in sie hinein, und in ihren Ohren hallte ihr Schall nach.
    Sie lief von der Schule direkt nach Hause. Sie wollte doch nicht, dass Li stirbt! Sie wollte sie nur ein bisschen ärgern! Ein bisschen piesacken!, schwirrte es in ihrem Kopf, als sie die Bělohorská-Straße überquerte.
    Und als sie schon die steile Treppe am Hang hochkraxelte,
an deren Ende sich das Haus mit der dunkelroten Fassade befand, war sie bereits davon überzeugt, dass sie Li im Grunde ganz gern mochte. Sogar noch lieber als die anderen Mädchen in der Klasse! Vielleicht sogar noch lieber als Marie Šeberová aus dem Nachbarhaus, die einst mit ihr draußen gespielt und ihr den Puppenwagen geliehen hatte! Aber Marie Šeberová war schon fast erwachsen und erwiderte gerade noch Helenas Gruß. Und Li Nguyen, die eine unzertrennliche Freundin hätte werden können, leidet an einem todkranken Nerv! Wegen ihr! Wegen ihr! Wegen ihr!
    Helena nahm drei Stufen auf einmal und ihr Herz klopfte bis zum Hals. Es ist grausam, wenn dir jemand etwas zuleide tut, aber noch viel schlimmer ist es, wenn du selbst jemandem etwas antust. Das wusste Helena jetzt ganz genau.
    Endlich kam sie oben an und stürmte in Richtung Haus. Aber nach ein paar Metern blieb sie wieder stehen und blickte atemlos vor sich auf den Bürgersteig. Dort stand am Straßenrand das Auto von Frau Bajerová.
    Wie oft war Helena von der Schule gekommen und hatte gehofft, den Wagen von Frau Bajerová vor dem Haus stehen zu sehen, was bedeutet hätte, sie wäre früher aus der Arbeit gekommen. Aber das passierte nie. Nicht einmal wenn Helena Geburtstag hatte. Und auch nicht, wenn sie mit Bauchweh eher von der Schule heimkam. Auch nicht, als ihr Papa endgültig ausgezogen war.
    Frau Bajerová war gewohnt, unerwartete Situationen aus der Ferne zu lösen, telefonisch oder mittels auf die Schnelle aufgetriebener Helfer: Tanten, Nachbarn oder professioneller Kindermädchen. Und so hatte es sich Helena eines Tages abgewöhnt,
damit zu rechnen, dass ihre Mama vor dem Abend nach Hause käme, und mit der Zeit störte es sie auch nicht mehr. Sie hatte sich damit abgefunden.
    Aber nun stand dieses große, silbermetallisch glänzende Auto vor dem Haus und Helena fing an, wie Espenlaub zu zittern.
    Für Frau Bajerová waren an diesem Tag einige Sitzungen ausgefallen, und so kam sie schon vor dem Mittag nach Hause. An einem Vormittag war sie schon weiß Gott wie lange nicht mehr zu Hause. Sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, dass zu dieser Tageszeit so viel Licht in die Küche strömte.
    Sie machte sich einen Tee und setzte sich einfach so ans Fenster. Sie sog die Stille in sich ein und in ihrem Kopf machten sich langsame, geschmeidige Gedanken breit. Es war sehr angenehm, sich einmal nicht abhetzen zu müssen, ständig zu telefonieren und die Kunden davon zu überzeugen, genau dieses oder jenes Haus, einen Garten oder ein Stück Wald zu kaufen.
    Und wie sie so diese Stille und Ruhe auf sich wirken ließ, hörte man auf einmal von irgendwoher ein gedämpftes Rascheln und Poltern – als ob jemand in Lederhandschuhen kurz klatschte. Oder als ob ein Vogel sein Gefieder schütteln würde.
    Zunächst maß sie diesem Geräusch keinerlei Bedeutung bei. Sie wusste ganz genau, dass sie selbst um diese Uhrzeit wie ein Eindringling in der Wohnung war und vermutete, dass diese Geräusche zur Wohnung dazugehör ten wie das Knarzen des Parketts oder das Tröpfeln des Wassers aus dem
Wasserhahn. Aber als sie wieder ein Schnarren vernahm, das diesmal von etwas begleitet wurde, was sich wie ein Krächzen anhörte, stand sie auf und machte sich auf die Suche nach dem Geräusch.
    »Hallo, Hosenscheißer!«, hörte man dumpf irgendwoher aus Helenas Zimmer und Frau Bajerová gefror das Blut in den Adern. Ein Dieb! Oder ein Verrückter! Er ist über den Balkon gekommen wie die vier Bengel neulich!
    Frau Bajerová nahm das vom Tisch mit, was ihr gerade unter die
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