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Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)

Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)

Titel: Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)
Autoren: Dirk Ahner
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dauerte einen Augenblick, bis sich Jonathans Augen an die gleißende Helligkeit gewöhnt hatten, die vor ihm lag. Fassungslos stolperte er einen Schritt nach vorne und sah Wolken, aus denen Asche auf verbrannte Erde fiel. Wind und Hitze hatten das Land zerfressen. Nur eine Steilküste aus grauem Fels war zurückgeblieben, gegen die ein tosendes Meer donnerte. Beißender Geruch von Schwefel lag in der Luft. Verwundert sah er zu Cassius, der den Würfel auf den Boden stellte und mit einem Tuch bedeckte.
    »Es ist lange her, da habe ich ein ähnlich dummes Gesicht gemacht wie du«, brummte er. »Aber glaub mir, auch nach all den Jahren ist es immer wieder erstaunlich, durch eine Passage zu gehen.«
    Verstört starrte Jonathan auf die verbrannte Weite, die sich vor ihnen erstreckte.
    »Wo sind wir? Ist das Iridionh?«
    Cassius hielt sich nicht mit Erklärungen auf. Er schulterte seinen Seesack und gab Jonathan ein Zeichen, ihm zu folgen. Sie marschierten an der Küste entlang über ausgefressene Felsen, die ihn an das Skelett eines Riesen erinnerten. Gerade als Jonathan sich fragte, was das Ziel dieser seltsamen Reise war, sah er es: ein Palast aus weißem Stein, der sich auf einer Landzunge hoch über dem tosenden Meer erhob. Zahllose Zinnen und Türme ragten hinter den Mauern empor, bedeckt mit Dächern aus Silber, denen Feuer und Asche nichts anhaben konnten. Dieser Ort hatte nichts Wehrhaftes, im Gegenteil, seine Tore standen weit offen, wie eine Einladung für jedermann. Feinde hatte man hier offensichtlich nicht zu fürchten. Der Felsgrat, der zum Haupttor führte, wand sich schmal und kurvig bergauf, sodass Jonathan kräftig schnaufen musste, um das Tempo seines Onkels zu halten. Dann standen sie vor dem Tor. Ein Ring war über den Pforten zu erkennen, durchzogen von feinen Linien und blau schimmernd. Dies also war das Machtzentrum des Großen Kreises, vermutete Jonathan.
    Cassius blieb vor dem Tor stehen und setzte sein Gepäck ab.
    »Ich werde hier warten«, sagte er. »Was innerhalb dieser Mauern gesagt wird, ist nur für deine Ohren bestimmt. Und jetzt geh. Sie erwarten dich.«
    »Die Herren des Großen Kreises?«
    »Genau die. Sie baten mich, dich hierherzubringen. Abmarsch, rein mit dir!«
    Cassius ließ sich demonstrativ an der Pforte nieder, um zu zeigen, dass das Gespräch beendet war. Jonathan wusste, dass er den Weg, der nun vor ihm lag, allein gehen musste.
    * * *
    Als er durch das Tor trat, wurde es schlagartig kühl, und das Donnern der Brandung wich einer seltsamen Stille. Jeder seiner Schritte warf ein leises Echo zurück, als er durch einen langen Gang mit perlmuttfarbenen Säulen ging. Die Decke hoch über ihm war mit Fresken versehen, Gemälde mythischer Kreaturen, Götter und Wesen, die nur in Fabeln und Märchen existierten: Faune und Einhörner, Wölfe und missgestaltete Zwerge. Er betrat eine Vorhalle, die verlassen schien. Wenn hier die Herren des Großen Kreises lebten, wo waren dann ihre Wachen, ihre Kammerdiener, ihre Köche und Dienstboten? Jonathan sah keine Menschenseele, nur verschwenderische Schönheit und Pracht. Die Wände waren aus sandfarbenem Marmor, und hohe Fenster boten einen Ausblick auf das tobende Meer.
    Er ging weiter und bemerkte eine verschlossene Tür mit goldener Klinke. Darüber waren fremdartige Schriftzeichen zu sehen, die, als er sie länger betrachtete, vor seinen Augen verschwammen. Zu seiner Verwunderung formierten sie sich plötzlich neu und erschienen in seiner Sprache:
    Tritt ein, wenn du nicht fürchtest, was du bist
    Was hatte das zu bedeuten? Er vermutete eine optische Täuschung, denn bereits nach wenigen Sekunden wurde die Schrift wieder fremd und unleserlich.
    Seine Hand berührte die Klinke. Er wollte sie herunterdrücken und den Raum betreten, doch er zuckte zurück. Vielleicht weil er sich auf seine Aufgabe besinnen wollte. Vielleicht aber auch, weil er sich tatsächlich davor fürchtete, was er dort finden würde. Die lange Reise, die er zurückgelegt hatte, war auch eine Reise zu sich selbst gewesen. Was, wenn er jetzt feststellen würde, dass er zu schwach war, zu jung, zu feige, um sich den Aufgaben zu stellen, die ihn erwarteten? Der Gedanke, die ungeschminkte Wahrheit über sich selbst zu erfahren, gefiel ihm gar nicht. Er ließ vom Türgriff ab und setzte seinen Weg fort.
    Ein Korridor aus Kristallglas folgte, in dem sich das Licht der sterbenden Sonne verfing. Hier gab es keine Türen mehr und keine Korridore, nur eine Treppe, die in die
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