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Joel 2 - Die Schatten wachsen in der Daemmerung

Joel 2 - Die Schatten wachsen in der Daemmerung

Titel: Joel 2 - Die Schatten wachsen in der Daemmerung
Autoren: Henning Mankell
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hatte es vorsichtig aus dem Beutel hervorgeholt. Es war blau und hatte einen Gürtel, der um die Taille festgenäht war.
    Lange hatte er es vor sich auf dem Küchentisch betrachtet. So lange, daß die Kartoffeln im Topf festgebrannt waren. Erst als es schon roch und räucherte in der Küche, hatte er aufgehört, das Kleid anzusehen. Er hatte es zurückgehängt in den Schrank.
    Aber ein paar Tage später hatte er es wieder vorgeholt. Und da hatte er es angezogen.
    Ihm war, als sei er Mama Jenny noch nie so nah gewesen.
    Er stellte einen Stuhl vor den gesprungenen Rasierspiegel, damit er den Gürtel um die Taille sah.
    Dann hängte er das Kleid wieder in den Schrank. Er konnte sich nicht entscheiden, ob Mama Jenny es vergessen oder mit Absicht hatte hängen lassen.
    Aber daran konnte er jetzt nicht denken. Gertrud watete in den Kleidern herum, die auf dem Fußboden lagen. »Zieh die an«, sagte sie und reichte ihm eine gelbe Hose. »Beeil dich! Nach acht Uhr am Abend kann man nichts mehr verändern, was normal ist.« »Warum nicht?« fragte Joel.
    »Das ist nun mal so«, antwortete Gertrud. »Beeil dich.«
    Joel zog die Hose an. Sie war viel zu lang. Er erinnerte sich, daß Gertrud sie einmal aus alten Vorhängen genäht hatte. Dann zog er ein kariertes Hemd an, und Gertrud band ihm einen Schlips um, genau wie er das sonst bei Papa Samuel machte. Gertrud hatte einen alten Overall angezogen, der früher einem Feuerwehrmann gehört hatte. Joel hatte sie einmal gefragt, woher sie all die alten Sachen hatte.
    »Das ist mein Geheimnis«, hatte sie geantwortet. »Du weißt doch, was ein Geheimnis ist?«
    Das wußte Joel.
    Ein Geheimnis war etwas, das man für sich selbst behielt.
    Das Haus, in dem Gertrud wohnte, hatte drei Zimmer.
    Ein normales Haus, ohne Besonderheiten. Anders war nur, daß es zwei Küchen hatte. Joel kannte niemanden außer Gertrud, der zwei Küchen besaß.
    Die zweite Küche, die kleine, war an der einen Wand in Gertruds Schlafzimmer. Dort gab es eine elektrische Kochplatte und ein kleines Spülbecken mit warmem und kaltem Wasser.
    »Warum hast du zwei Küchen?« hatte Joel gefragt, als er das zum erstenmal gesehen hatte.
    »Ich bin so faul«, hatte Gertrud geantwortet. »Morgens schaff ich es noch nicht, in die große Küche zu gehen. Dann koch ich hier drinnen Kaffee.«
    Damals hatte Joel für sich entschieden, daß Gertrud wohl ein bißchen verrückt war. Aber da an ihrer Art, anders zu sein, nichts Gefährliches oder Erschreckendes war, hatte er beschlossen, daß es nur spannend war. Spannend und merkwürdig.
    Er hatte sogar ein Wort erfunden, mit dem er Gertrud beschreiben konnte. Keins der Wörter, die er kannte, war wirklich gut. Deswegen hatte er spannend und merkwürdig zu einem neuen Wort zusammengezogen. Gertrud war
sperkwürdig.
    Aber das hatte er ihr nie erzählt. Vielleicht war es verboten, neue Wörter zu erfinden? Vielleicht saßen irgendwo in einem Büro ernste, alte Männer und bestimmten darüber, welche Wörter es geben durfte und welche verboten waren?
    Joel hatte sogar ein Geheimwort für verbotene Wörter.
Un-Wort,
nannte er sie.
    Gertrud zog ihn vor den großen Spiegel, der im mittleren Zimmer des Hauses war. Es war das größte der drei Zimmer. Es war auch das aufregendste Zimmer. Darin gab es so viele Sachen, daß man kaum hineinkam. An der Decke hing ein großer Vogelkäfig. Gertrud hatte einen ausgestopften Hasen hineingesetzt. Auf einem Tisch an der einen Wand stand ein Aquarium. Eine Lampe, die an den Aquariumrand geklemmt war, beleuchtete den Sandboden. Aber in dem warmen Wasser schwammen keine Fische herum. Auf dem Boden stand eine Spielzeuglokomotive. Ein großes Sofa mitten im Zimmer war voller Bücher. An den Wänden hingen Teppiche. Joel war es gewohnt, daß sie auf dem Fußboden lagen. Aber Gertruds Fußboden war mit Sand und Steinen bedeckt, und manchmal holte sie im Winter Tannenreisig aus dem Wald.
    In einer Ecke des Zimmers stand ein großer Spiegel. Und dort sahen sie einander an und lachten.
    »Gut«, sagte Gertrud. »Jetzt sehen wir nicht mehr wie immer aus. Jetzt können wir anfangen.«
    Joel sah sie fragend an. Eigentlich fühlte er sich albern in der gelben Hose und dem karierten Hemd. Aber gleichzeitig war er sehr neugierig darauf, was sie sich einfallen lassen würde.
    Gertrud setzte sich auf den Fußboden, und Joel machte es ihr nach.
    »Jetzt guck mal«, sagte sie.
    »Wohin soll ich gucken?« fragte Joel.
    Gertrud zeigte auf die Lampe, die an einem Kabel
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