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Joel 2 - Die Schatten wachsen in der Daemmerung

Joel 2 - Die Schatten wachsen in der Daemmerung

Titel: Joel 2 - Die Schatten wachsen in der Daemmerung
Autoren: Henning Mankell
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von der Decke baumelte.
    »Guck dir die Lampe an«, sagte sie. »Sie sieht ganz normal aus. Eine normale Lampe, die an einem normalen Kabel von einer normalen Decke hängt. Das müssen wir doch ändern können. Zu was wollen wir sie machen?«
    »Ich weiß nicht«, sagte Joel zögernd. »Eine Lampe ist ja wohl eine Lampe, oder?«
    »Aber sie braucht doch nicht so normal auszusehen«, sagte Gertrud. »Stell dir vor, sie sähe wie ein Pilz aus.« »Ein Pilz?«
    »Du weißt doch wohl, was ein Pilz ist. Jetzt zeig ich dir, wie eine Pilzlampe aussieht.«
    Joel sah, wie sie vorsichtig den Stecker aus der Wand zog, während sie über Bücherberge auf dem Sofa balancierte. Dann holte sie einen kaputten Besenstiel aus der Besenkammer und schraubte ihn in einem alten Tannenbaumständer fest. Sie wickelte die Glühlampe am Besenstiel fest und stülpte einen kaputten Lampenschirm darüber. Unter den Kleidern auf dem Fußboden fand sie einen gelben Stoffetzen, und den legte sie vorsichtig über den Schirm. Dann steckte sie den Stecker wieder ein.
    Zu seinem Erstaunen sah Joel, daß die Lampe tatsächlich einem Pilz glich. Jetzt verstand er, was sie meinte. Und jetzt war er dabei. Die Heizung unter einem der Fenster verwandelten sie in einen Tiger. Er malte ihr Streifen und fügte ihr einen Schwanz an. Einen Papierkorb verwandelten sie in ein Auto, indem Joel ein Steuer aus gebogenem Stahldraht am Griff befestigte. Währenddessen zerrte Gertrud an einer schweren Kommode herum, die sie in ein Segelschiff verwandeln wollte.
    Dann saßen sie auf dem Fußboden und schnappten nach Luft.
    »Sehr viel besser«, sagte Gertrud zufrieden. »Aber dies Zimmer muß unbedingt gestrichen werden. Vielleicht sollte man die Fenster zunageln und Fenster auf die Wände malen.«
    »Dann kann man ja nicht lüften«, sagte Joel. »Vielleicht nicht«, sagte Gertrud. »Aber nur vielleicht. Vielleicht geht es trotzdem ?«
    Joel überlegte, daß das Durcheinander bei Gertrud kaum größer war als manchmal bei ihm zu Hause. Der Unterschied war nur, daß Gertrud niemals aufräumte. Bei ihr gab es nichts, was Unordnung hieß…
    An all dies dachte Joel, während die Glocken hinter Gertruds Tür läuteten.
    In wenigen Sekunden konnte er durchdenken, was in Wirklichkeit mehrere Stunden gedauert hatte. Das gehörte zu den unbeantworteten Fragen auf der letzten Seite in seinem Logbuch.
    Woher kam es, daß man sich so schnell erinnern konnte?
    Er zog wieder an der Schnur.
    Vielleicht war Gertrud nicht zu Hause? Manchmal ging sie abends zur Versammlung in ihrer Kirche. Ab und zu verkaufte sie eine religiöse Zeitung an den Haustüren. Davon lebte sie, hatte sie erzählt. Und er hatte andere Leute sagen hören, daß die arme Gertrud, die keine Nase hatte, sehr arm war. Aber sie ist nicht arm, dachte Joel.
    Bestimmt konnte sie sich Geld zusammenphantasieren, wenn sie keins hatte.
    Endlich hörte er sie hinter der Tür in ihren Pantoffeln heranschlurfen.
    Er strengte sich an, den Gesichtsausdruck zu ändern, damit er aussah wie ein Mensch, der gerade ein Mirakel erlebt hatte. Die Tür öffnete sich, und da stand Gertrud.
    Sie war ganz blau im Gesicht. Blau wie der blaueste Sommerhimmel.
    »Joel!« rief sie. Dann zog sie ihn in den Vorraum und nahm ihn in die Arme.
    Joel merkte, daß er auch blau im Gesicht wurde. Jetzt ist alles kaputt, dachte er wütend. Es gibt keine blauen Menschen, die ein Mirakel erlebt haben. Es gibt überhaupt keine blauen Menschen. Gertrud sah ihn ernst an.
    »Ich hab gehört, was passiert ist«, sagte sie. »Gott sei Dank, daß es gutgegangen ist.«
    Sie schob ihn in die Küche. Dort war es warm. In dem alten Holzherd knisterte es. Auf dem Küchentisch stand eine große Schüssel voller blauer Farbe.
    »Was machst du ?« fragte Joel.
    »Ich wollte dieses weiße Porzellan anmalen«, antwortete Gertrud. »Aber das wurde mir langweilig, und da hab ich angefangen, mein Gesicht anzumalen.«
    Joel nahm seine Mütze ab und knöpfte seine Jacke auf. In dem kleinen Spiegel, der auf dem Küchentisch stand, sah er, daß er auf der Nase und auf der einen Wange blau geworden war. Er sah Gertrud an, ihr blaues Gesicht. Sogar das Taschentuch, das in dem Loch steckte, wo ihre Nase gewesen war, war blau.
    Plötzlich wurde er wütend. Sie war ja verrückt. Sie hätte doch wissen müssen, daß er sie besuchen würde, wo er gerade ein Mirakel erlebt hatte.
    Mußte sie sich jetzt ganz blau anmalen?
    Sie hatte sich ihm gegenüber gesetzt und sah ihn ernst an.
    »Ich
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