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Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer

Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer

Titel: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer
Autoren: Michael Ende
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Der Baum war von zartvioletter Farbe, und deshalb sah alles dahinter zartviolett aus.
    Duftige Nebelschleier schwebten über den Wiesen, und da und dort schlängelten sich Flüsse, über die sich zierliche, schmale Brücken aus Porzellan schwangen. Manche dieser Brücken hatten seltsame Dächer, daran hingen Tausende von kleinen Glocken aus Silber, die im Morgenlicht glitzerten. An vielen Bäumen und Blumen hingen ebenfalls silberne Glöckchen, und wenn ein leichter Wind über das Land strich, dann erscholl bald hier, bald dort ein ganz überirdisch feines, vielstimmiges Klingen.
    Große Schmetterlinge mit schimmernden Flügeln schwebte n zwischen den Blüten hin und her, und winzige Vögelchen mit langen gebogenen Schnäbeln saugten Honig und Tautropfen aus den Kelchen. Diese Vögel waren nicht größer als Hummeln. (Man nennt sie Kolibris. Sie sind die kleinsten Vögel, die es überhaupt auf der Welt gibt, und sie sehen aus, als wären sie aus purem Gold und Edelsteinen.)
    Ganz in der Ferne, am Horizont, erhob ein gewaltiges Gebirge seine Gipfel hoch in die Wolken. Es war rot und weiß gemustert. Aus dieser Entfernung sah es aus wie eine wunderschöne Zierleiste aus dem Schulheft eines Riesenkindes.
    Jim schaute und schaute, und vor lauter Staunen vergaß er, den Mund zuzumachen.
    »Na«, hörte er plötzlich Lukas sagen, »du machst ja nicht gerade ein sehr geistreiches Gesicht, alter Junge. Übrigens, guten Morgen, Jim!« Und er gähnte herzhaft.
    »Oh, Lukas!« stammelte Jim, ohne den Blick von der Landschaf t zu wenden. »Da draußen…wie das alles durchsichtig is’ und … und … und …«
    »Wieso durchsichtig?« fragte Lukas und gähnte noch einmal. »Wasser ist, soviel ich weiß, immer durchsichtig. Mir wird das viele Wasser allmählich ein bißchen langweilig. Möchte wissen, wann wir endlich irgendwo ankommen.«
    »Wieso denn Wasser?« Jim schrie beinahe vor Aufregung. »Ich mein’ doch die Bäume!«
    »Bäume?« fragte Lukas und streckte sich, daß es knackte. »Du träumst wohl noch, Jim. Auf dem Meer wachsen keine Bäume, und schon gar keine, die durchsichtig sind.«
    »Doch nicht auf dem Meer!« rief Jim. Er wurde langsam ungeduldig. »Da draußen is’ Land und Bäume und Blumen und Brücken und Berge …«
    Er faßte Lukas an der Hand und versuchte aufgeregt, ihn hochzuziehen.
    »Na, na, na!« brummte Lukas, während er aufstand. Und dann schaute er durch das Fenster hinaus und sah die märchenhafte Landschaft, und da sagte auch er erst einmal eine ganze Weile gar nichts mehr. Schließlich stieß er hervor:
    »Donnerwetter!«
    Und dann sagte er wieder eine ganze Weile nichts. Der Anblick überwältigte ihn.
    »Was für ein Land kann das nur sein?« unterbrach Jim endlich das Schweigen.
    »Diese merkwürdigen Bäume …?« murmelte Lukas gedankenvoll, »diese Silberglöckchen überall, diese geschwungenen, schmalen Brücken aus Porzellan … ?« Und plötzlich rief er: »Ich will nicht Lukas der Lokomotivführer heißen, wenn das nicht das Land Mandala ist! Komm, Jim, hilf mir! Wir müssen Emma ganz auf den Strand schieben.«
    Sie kletterten hinaus und schoben Emma aufs Trockene. Und als das geschehen war, setzten sie sich erst mal hin und frühstückten in aller Ruhe. Sie aßen die letzten Seegurken aus ihrem Vorrat auf. Dann zündete Lukas sich seine Pfeife an. »Und wohin fahren wir jetzt?« wollte Jim wissen.
    »Das beste wird sein«, überlegte Lukas, »wir fahren erst mal nach Fing. So heißt, soviel ich weiß, die Hauptstadt von Mandala. Wollen mal sehen, ob wir nicht vielleicht seine Majestät den Kaiser sprechen können.«
    »Was willst du denn von ihm?« erkundigte sich Jim bewundernd.
    »Ich will ihn fragen, ob er nicht eine Lokomotive und zwei Lokomotivführer brauchen kann. Vielleicht hat er so was gerade nötig. Dann könnten wir hier bleiben, verstehst du? Das Land scheint ja nicht übel zu sein.«
    Also gingen sie an die Arbeit und machten Emma wieder landtüchtig. Zuerst montierten sie den Mast und das Segel ab. Dann öffneten sie die kalfaterten Türen wieder, indem sie den Teer und das Werg sorgfältig aus allen Ritzen entfernten, und zuletzt füllten sie Emmas Kessel wieder mit Wasser und den Tender mit trockenem Treibholz, das massenhaft am Strand herumlag.
    Als das geschehen war, machten sie Feuer unter dem Kessel. Dabei zeigte sich übrigens, daß das durchsichtige Holz fast ebenso ausgezeichnet brannte wie Kohle. Als das Wasser im Kessel ordentlich kochte, dampften sie
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