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Jemand Anders

Jemand Anders

Titel: Jemand Anders
Autoren: Franz Kabelka
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Gegenfrage, sagt das Spiegelbild: Wenn alles nichts wert sein soll, wenn eh nichts zählt auf dieser Welt – wieso kommst du mir dann immer mit diesem elenden Gejammer?
    Gejammer?
    Ja, dein Gewinsel, dein Gesudere – nenne es, wie du willst! Wer einen Satz mit Wozu beginnt, ohne an einen Schöpfer zu glauben, ist ein hoffnungsloser Lamentierer. Wie ein Windjammer ohne Wind – ein wahres Bild des Jammers! Wenn schon, denn schon, Edgar, wenn schon, denn schon!
    Du meinst …?, dämmert es mir.
    Genau, nickt der andere, Spiel oder nicht Spiel, das ist die einzige Frage, die sich stellt. Ob es dafür einen Gott braucht, ist zweitrangig. Und gesetzt den Fall, es gäbe ihn: Vielleicht ist er ja selbst ein Spielertyp, vielleicht würfelt er ja doch? Wenn du meinen Rat willst: Wer sich einmal entschieden hat, sollte diese Entscheidung nicht ständig hinterfragen.
    Danke, sage ich, das hilft mir sicher weiter. Meine Hand sucht den Lichtschalter.
    Bitte sehr, sagt der andere und zieht sich dezent aus dem Spiegel zurück.
    *
    Was würde ich jetzt nicht geben für einen lieben Gott!
    Es bräuchte nur ein ganz kleiner, alter, verschrumpelter sein. Einer, zu dem du beten kannst – vertrauensvoll, inbrünstig, mit seligem Blick. An dessen grauen Bart du dich klammerst, wenn der Boden schwankt. Wenn die Falltür sich öffnet unter dem armen Sünder.
    Bringst du diese katholischen Bilder denn nie aus dem Schädel! Gerade dann tauchen sie auf, wenn du es am wenigsten erwartest.
    Wahrscheinlich habe ich zu oft Vater zu ihm gesagt in meinen Gebeten, Predigten, Träumen. Jetzt lässt er mich auch als Toter nicht in Frieden. Lässt mich nicht ran an mein eigenes bisschen Leben.
    Vielleicht muss ein Agnostiker einfach einen finden, der für ihn betet? Ach komm, vergiss es! Einen solchen Aberglauben darfst du dir nicht mehr erlauben.
    Nicht einmal im Scherz.
    *
    Ich kann nicht behaupten, dass mich die alles entscheidenden Fragen kalt lassen, aber ich gewöhne mich an sie. Wer gewöhnt sich nicht an das Grauen, wenn es nur lange genug dauert? Wie Pater Xaver an seinen Nichtglauben …
    Bin tatsächlich ich es, der den Gewissenlosen auf dem Gewissen hat?
    Die Hand auf dem Video – war es meine?
    Habe ich mein Wissen um Reicherts Krankheit genutzt und seine Medikamente ausgetauscht? Ersetzt durch ein Präparat ohne Wirkung?
    Auch mein Gefasel auf dem Sprachmemo, gnadenlos sein zu wollen: ein starkes Indiz. Jedenfalls für mich, der ich das Motiv kenne. Kein verwertbarer Beweis natürlich im strafrechtlichen Sinn. Nichts, weswegen einen ein Staatsanwalt vor ein irdisches Gericht bringen könnte. Und ein anderes existiert ja nur in den naiven Köpfen der Gläubigen.
    Wie auch immer: Eine letzte Gewissheit gibt es nicht.
    Aber gibt es die je?
    Und was, wenn die Erinnerung doch noch zurückkehrt? Bruchstücke wenigstens, Erinnerungsinseln im Meer der vergessenen Zeit , um Dr. Sellners geschwollenen Jargon zu bemühen. Würde es etwas ändern? Wäre ich dann jemand anders – besser, schlechter?
    *
    Würde ich heute mein Vermächtnis zu Papier bringen, es müsste handeln von meinem Zorn auf die Kirche, der zwar kein heiliger, aber ein profunder ist und der nichts zu tun hat mit den so heftig diskutierten Schandtaten einzelner Diener Gottes. Es gibt einen viel allgemein gültigeren, viel tiefer gehenden Missbrauch. Er wütet dort, wo immer sie, die Seelenfänger, das Wort Seele für sich und ihre Engherzigkeit in Beschlag nehmen, wenn sie schon die Kinderseele mit Höllenfeuer ausbrennen und Fröhlichkeit und Lust aus ihr herauspeitschen. Dieser Missbrauch zerstört nachhaltig, es ist ein fortwährender und er schreckt vor nichts und niemandem zurück. Nicht einmal das Allerheiligste bleibt verschont: unsere Suche nach dem Himmel auf Erden. Stattdessen ziehen sie die Erde in den Dreck und spalten den Himmel von ihr ab.
    Sie!
    In einer Kurzgeschichte enthüllt Kafka ihre Methode.
    Wie standen sie einem noch gegenüber, selbst wenn man ihnen schon längst entlaufen war, wenn es also längst nichts mehr zu fangen gab! Wie setzten sie sich nicht, wie fielen sie nicht hin, sondern sahen einen mit Blicken an, die noch immer, wenn auch nur aus der Ferne, überzeugten! Und ihre Mittel waren stets die gleichen: Sie stellten sich vor uns hin, so breit sie konnten; suchten uns abzuhalten von dort, wohin wir strebten; bereiteten uns zum Ersatz eine Wohnung in ihrer Brust, und bäumte sich endlich das gesammelte Gefühl in uns auf, nahmen sie es als
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