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Jeder stirbt für sich allein

Jeder stirbt für sich allein

Titel: Jeder stirbt für sich allein
Autoren: Hans Fallada
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nicht.
    Darüber ist es Abend geworden und Nacht. Man hat die ungetane Arbeit aus der Zelle geholt, und es ist ihr eröffnet worden, daß ihr wegen Faulheit für eine Woche die Matratze entzogen und daß sie für eine Woche auf Wasser und Brot gesetzt worden ist. Aber sie hat kaum hingehört. Was geht das sie an, was sie reden?
    Ihre Abendsuppe steht unangerührt auf dem Tisch, und noch immer läuft sie auf und ab, todmüde, keines klaren Gedankens mehr fähig, eine Beute des Zweifels: Soll ich -
    soll ich nicht?
    Jetzt spielt ihre Zunge mit dem Giftröhrchen im Munde, ohne daß sie es recht weiß, ohne daß sie es recht will, setzt sie ihre Zähne sanft, sanft auf das Glas auf, ganz vorsichtig beißen die Zähne ein wenig ...
    Und hastig holt sie das Glas aus der Mundhöhle. Sie wandert und probiert, sie weiß nicht mehr, was sie tut -
    und draußen liegt die Tobjacke für sie bereit ...
    Dann plötzlich, schon tief in der Nacht, entdeckt sie, daß sie auf ihrer Holzpritsche liegt, auf den harten Brettern, mit der dünnen Decke zugedeckt. Sie zittert vor Kälte am ganzen Leibe. Hat sie geschlafen? Ist das Röhrchen noch da? Hat sie es etwa verschluckt? Sie hat es nicht mehr im Munde!
    Sie fährt in ihrer Angst hoch, setzt sich auf - und lächelt. Da ist es - in ihrer Hand. Sie hat es in der hohlen Hand gehalten während des Schlafs. Sie lächelt, noch einmal ist sie gerettet. Nicht den andern, fürchterlichen Tod muß sie sterben ...
    Und während sie da so frierend sitzt, denkt sie daran, daß sie von heut an jeden Tag, der werden wird, diesen schrecklichen Kampf kämpfen muß zwischen Willen und Schwäche, Feigheit und Mut. Und wie ungewiß der Ausgang dieses Kampfes ist ...
    Und durch Zweifel und Verzweiflung hört sie eine sanfte gütige Stimme: Nicht bange sein, Kind, bloß nicht bange sein .
    Plötzlich weiß Frau Anna Quangel: Jetzt werde ich mich entschließen! Jetzt habe ich die Kraft!
    Sie schleicht zur Tür, sie lauscht hinaus auf den Gang.
    Der Schritt der Aufseherin nähert sich. Sie stellt sich an die
    Wand gegenüber, beginnt dann, als sie merkt, sie wird durch den Spion beobachtet, langsam auf und ab zu gehen. Nicht bange sein, Kind ...
    Erst als sie ganz sicher ist, die Aufseherin ist weitergegangen, klettert sie am Fenster hoch. Eine Stimme fragt:
    «Bist du das, Sechsundsiebzig? Hast du heute Besuch gehabt?»
    Sie antwortet nicht. Sie wird nie mehr antworten. Mit der einen Hand hält sie sich an der Fensterblende, die andere streckt sie hinaus, zwischen den Fingern das Röhrchen. Sie drückt es gegen die Steinwand, sie fühlt, der dünne Hals bricht ab. Sie läßt das Gift in die Tiefe des Hofes fallen.
    Als sie wieder in der Zelle ist, riecht sie an ihren Fingern: sie riechen stark nach bitteren Mandeln. Sie wäscht sich die Hände, sie legt sich auf das Bett. Sie ist todmüde, ihr ist, als sei sie einer schweren Gefahr entronnen. Sie schläft rasch ein. Sie schläft sehr tief und traumlos. Sie wacht erfrischt auf.
    Von dieser Nacht an gab Sechsundsiebzig keinen Anlaß mehr zu Tadel. Sie war ruhig, heiter, fleißig, freundlich.
    Sie dachte kaum noch an ihren schweren Tod, sie dachte nur noch daran, daß sie Otto Ehre machen mußte. Und manchmal, in trüben Stunden, hörte sie wieder die Stimme des alten Kammergerichtsrats Fromm: Nicht bange sein, Kind, bloß nicht bange sein.
    Sie war es nicht. Nie mehr.
    Sie hatte es überwunden.
    Es ist soweit, Quangel
    Es ist noch Nacht, als ein Aufseher die Tür zu Otto Quangels Zelle aufschließt.
    Quangel, aus tiefem Schlaf erwacht, sieht blinzelnd auf die große, schwarze Gestalt, die in seine Zelle getreten ist.
    Im nächsten Augenblick ist er hellwach, und sein Herz klopft schneller als sonst, denn er hat begriffen, was diese große, dort schweigend unter der Tür stehende Gestalt bedeutet.
    «föt es soweit, Herr Pastor?» fragt er und greift schon nach seinen Kleidern.
    «Es ist soweit, Quangel!» antwortet der Geistliche. Und fragt: «Fühlen Sie sich bereit?»
    «Ich bin jede Stunde bereit», antwortet Quangel, und seine Zunge berührt das Röhrchen in seinem Munde.
    Er fängt an, sich anzukleiden. Alle seine Griffe geschehen ruhig, ohne Hast.
    Einen Augenblick mustern sich die beiden schweigend.
    Der Pastor ist ein noch junger, grobknochiger Mann, mit einem einfachen, vielleicht etwas törichten Gesicht.
    Nicht viel los mit dem, entscheidet Quangel. Kein Mann wie der gute Pastor.
    Der Pastor wieder sieht vor sich einen langen, verarbeiteten Mann.
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