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Jasmin - Roman

Titel: Jasmin - Roman
Autoren: C. Bertelsmann
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die alle ergriff, als mitten in dieser Rede plötzlich sieben Schüsse zu hören waren, und die Worte, die Nasser nach dem versuchten Anschlag auf sein Leben sagte, gruben sich mir unauslöschlich ein:
    »O ihr Bürger, bleibt an euren Plätzen! Mein Blut ist euer Sühneopfer, mein Leben ist das Opfer Ägyptens. O freie Menschen, ich spreche zu euch, nachdem man versucht hat, euch anzugreifen. Das Leben Gamal Abd el-Nassers ist das eure, aus eurer Mitte heraus kam er … Ich bin kein Feigling, für eure Ehre habe ich gekämpft. Wenn Gamal Abd el-Nasser stirbt, seid ihr alle Gamal Abd el-Nasser. Bis zum Tag meines Todes werde ich für euch kämpfen … ich werde euch ein Märtyrer sein …«
    Schon damals verstand ich, was sich im Herzen eines arabischen Jugendlichen abspielte, denn wenn ich ihm zuhörte, packte mich selbst der Drang, ein Gewehr zu ergreifen und die britischen Unterdrücker, die amerikanischen Imperialisten, die Agenten des Westens oder wen immer er nennen würde, zu erschießen. Ich war ein Knabe, hatte vor Kurzem erst die Jugendgemeinschaft des
Kibbuz verlassen, in dem ich die Gründer kennenlernte, die Helden unseres Befreiungskriegs. Und da vertrieb ihr Held, ein junger, kühner Führer, der sich zum Herrscher über Ägypten machte, König Faruk, setzte General Nagib an die Spitze der neuen Regierung und verjagte die Briten. Ich träumte damals davon, ein Führer wie er zu sein, und hoffte, er werde Frieden schließen. Und ausgerechnet er, der Held meiner Jugend, gab seinen Streitkräften nun das Zeichen, wie die Fluten des Nils in den Sinai zu strömen, sich durch die Wadis und Felsspalten der Wüste zu graben, um mich zu vernichten. Und weswegen? Wegen eines Reißverschlusses - die Meerenge von Tiran war offen, die Meerenge von Tiran war zu. Deswegen lebte und starb man?
    Jetzt, vor den Toren Gazas, hörte ich Nasser im Radio des Nachrichtenoffiziers und vernahm, dass es sein Ziel war, die Situation von vor 1948 wiederherzustellen. Ich versuchte, mich auf seine Worte zu konzentrieren und nicht auf seine Stimme, doch nur wenn ich mich auf den Ton und die Melodie konzentrierte, gelang es mir, die Worte im Gedächtnis zu behalten. Schließlich hatten sich mir seine alten Reden dank der Melodie Wort für Wort eingeprägt, wie etwas in der Kindheit Eingelerntes. Die häufigen Wiederholungen, das Auf und Ab der Stimme, die entfesselte Wut und die Beleidigungen, die er ausstieß, die stürmischen Ausbrüche, die dramatischen Schweigepausen, die rhythmischen Ausrufe.
    »Mein Leben ist euer Sühneopfer, Ägyptens Opfer!«, röhrte Nasser wieder. Wie viele junge Männer würde er schlachten, um seine Launen zu befriedigen? Doch vielleicht konnte er siegen … man sagte, dass er chemische Waffen habe! Genug, Genosse, beruhige dich, hör auf, dir selber Angst zu machen.
     
    An jenem Abend brachten sie Schaike Ofir zu uns. Er imitierte Juden von hier und dort, auf Arabisch und Jiddisch, und wir starben fast vor Lachen. Für einige Augenblicke vergaß ich Sa’ut al-Arab, die Stimme Kairos, die, diesmal auf Hebräisch, damit es
alle verstanden, brüllte: »Wir werden euch vernichten, wir werden euch schlachten, wir werden euch zu Staub zermahlen!«
    Es wurde Nacht, und wieder umklammerte das erstickende Gefühl meine Kehle. Bange Seufzer, mit schweren Knien immer wieder im Kreis um die Zerstörungsgeräte herum, geistesabwesend, abgerissene Worte … Wenn es doch nur enden würde, wie lange sollte dieses Warten noch dauern? Gedanken kamen, Erinnerungen tauchten in Wellen auf. Als ich zwei Jahre alt war, brach der Zweite Weltkrieg aus, wir flüchteten aus meinem Geburtshaus im muslimischen Viertel von Bagdad, doch die Ausschreitungen ereilten uns im jüdischen Viertel, Gemetzel, Vergewaltigungen und Plünderungen. Als ich zehn war, brach der Unabhängigkeitskrieg in Israel aus. Die Muslime verhafteten meinen Onkel Chizkel, und wir ließen Bagdad im Stich, wurden Flüchtlinge, die um ihr Leben rennen. Als ich neunzehn war, brach der Sinaikrieg aus, und meine Mutter hatte vor Angst eine Fehlgeburt. Jetzt näherte ich mich schon den dreißig, und es war kein Ende abzusehen!
     
    Die Tage krochen dahin. Ein weiterer Tag verstrich in nervenaufreibender Erwartung und noch einer, und dann kam der Freitag. Hitze. Schwere Luft lagerte sich ab wie ein mattes urzeitliches Tier, rührte und regte sich nicht. Alles war still, wie einem Kartäuserkloster. Nur Trabelsi lief energisch herum, sang grauenhaft falsch
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