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Jäger in der Nacht: Kriminalroman (German Edition)

Jäger in der Nacht: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Jäger in der Nacht: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Oliver Bottini
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sodass sie von innen nicht zu öffnen waren, es sei denn, man stieße mit Wucht dagegen. Er glaubte nicht, dass die Frau dazu in der Lage war.
    »Wegen der Tiere«, sagte er.
    »Mhm«, machte Dennis leise, und dann stiegen sie auf die Räder und fuhren über das Feld in den Ort zurück, und wieder flogen die Krähen auf und krächzten wütend, und ihre Schatten sausten neben ihnen über das Gras.

    Während des Essens dachte Eddie an nichts anderes als an die Frau und an die Gedanken, die ihm in der Scheune durch den Kopf gegangen waren: dass er tun und lassen konnte, was er wollte, und dass nichts geschehen würde. Wenn sein Blick dem von Dennis begegnete, wusste er, dass auch Dennis an die Frau dachte.
    Dennis’ Mutter bemerkte nichts von alldem. Sie sagte kaum ein Wort. Blass, fett und schwitzend saß sie zwischen ihnen, auf die riesige Portion Gulasch konzentriert, die sie sich auf den Teller geladen hatte. Nach dem Essen verschwand sie in ihr Zimmer, und Eddie hörte sie eine Weile telefonieren und dann eine Weile weinen, dann schien sie eingeschlafen zu sein.
    Um sechs begann das Fußballspiel, und auch während des Spiels dachte Eddie nur an die Frau in der Scheune. Ein-, zweimal war er drauf und dran, aufzustehen und zu gehen, aber dann blieb er doch.
    Nach der ersten Halbzeit stellte Dennis den Ton ab und sagte: »Was wohl mit ihr passiert ist?«
    Eddie zuckte die Achseln. Er dachte gerade daran, dass er für ein paar Tage in der Scheune bleiben konnte. Irgendwann nachts würde er zu Hause Kleidung und etwas zu essen holen, und dann würde er für ein paar Tage bei der Frau in der Scheune bleiben.
    »Wenn du mich fragst …« Dennis vollendete den Satz nicht. Stattdessen sagte er: »Hoffentlich kratzt sie nicht ab.«
    »Tut sie nicht.«
    »Aber wir müssen einen Arzt …«
    »Morgen«, unterbrach Eddie.
    »Ja.« Dennis ging in die Küche und kam mit Bier und den Zigaretten seiner Mutter zurück. Sie tranken und rauchten schweigend. Die zweite Halbzeit begann, und Dennis stellte den Ton wieder laut. Eddie spürte, wie ihn das Bier und der riesige Bildschirm und der Stadionlärm aus fünf Lautsprechern mitrissen. Dennoch sah er die Frau vor sich, wie sie nackt im Halbdunkel der Scheune lag.
    Dennis rülpste und sagte etwas.
    »Was?«
    »Ob jemand nach ihr sucht?«
    »Wer zum Beispiel?«
    »Der, der das getan hat.«
    Sie sahen sich an. Da war es wieder, das Mitleid in Dennis’ Blick.
    »Wir werden auf sie aufpassen«, sagte Eddie.

    Das Spiel dauerte Ewigkeiten. Es gab Verlängerung und Elfmeterschießen, dann hatte Argentinien knapp gewonnen.
    Eddie stand auf. »Fahren wir.«
    »Also, ich weiß nicht«, sagte Dennis und rührte sich nicht. Blass und schwabblig saß er da, und Eddie wusste, dass er tatsächlich zu einem Problem geworden war. »Ich weiß nicht«, wiederholte er. Dann schaltete er den Fernseher aus und machte Anstalten, sich zu erheben.
    Eddie sagte: »Wenn du nicht mitkommen willst, fahr ich allein.«
    Überrascht hielt Dennis inne. Er sank auf den Sessel zurück, als zöge ihn sein Gewicht hinunter. »Ich weiß nicht«, sagte er zum dritten Mal. »Wenn du mich fragst, wir dürfen das nicht tun.«
    »Du tust nichts.«
    »Aber wir sollten jemand anrufen.«
    »Ja«, sagte Eddie. »Und dann fragen sie, warum wir so lang gewartet haben.«
    Dennis sah auf den schwarzen Bildschirm, als wollte er sagen: wegen dem Fußballspiel.
    Er furzte laut und lang, und Eddie grinste und dachte: Ein Furz der Verzweiflung. »Ich sag dir, wer sie ist. Eine von den französischen Zigeunerschlampen.«
    »Meinst du?«
    »Sie hat Ärger gemacht, und dann haben die anderen Zigeuner sie verprügelt.«
    »Aber sie sieht nicht aus wie eine Zigeunerin.«
    »Klar sieht sie aus wie ’ne Zigeunerin. Hast du die Augen gesehen? Zigeuneraugen.«
    Dennis sagte nichts.
    »Also, kommst du mit oder nicht?« Eddie wartete noch einen Moment lang. Er wusste, dass Dennis an die Frau dachte. An die Gelegenheit, die sich ihm, dem fetten, hässlichen Fünfzehnjährigen, den kein Mädchen jemals freiwillig ranlassen würde, da plötzlich bot.
    Aber dann schüttelte Dennis den Kopf.
    »Du rufst niemand an«, sagte Eddie warnend.
    Dennis wandte sich ihm zu. »Und du?«
    »Später. Morgen früh.«
    »In Ordnung.«
    Eddie ging zur Tür. »Wenn du willst, komm nach.«
    Dennis nickte. Für einen Moment lag in seinen Augen ein Leuchten, und da wusste Eddie, dass es später keine Probleme mehr geben würde. Dass Dennis nachkommen und die
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