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Jack Holborn

Jack Holborn

Titel: Jack Holborn
Autoren: Leon Garfield
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als sicher an, daß Lord Sheringham vor dem 23. aufs Land reisen und dort bis nach Weihnachten bleiben würde. Sogar Lord Mounteagle sagte: »Natürlich gehen Sie aufs Land.«
    Worauf Lord Sheringham kurz erwiderte: »Nein, ich bleibe in der Stadt. Wenn ich es wäre, der gehängt würde, versichere ich Ihnen, Sir, daß dieser Mann in Tyburn wäre, um zuzusehen. Er wird mich nicht wieder aus meinem Haus vertreiben.«
    »Selbstverständlich, selbstverständlich –.« Und dann stampfte Lord Mounteagle, dieser großartige alte Mann, fast demütig hinaus.
    Gegen Ende war Lord Sheringham von der Idee besessen, daß ein Ausbruch stattfinden würde; Tatsache war, daß er jeden Morgen in der Frühe aus dem Gefängnis Bescheid bekam, ob die Nacht ohne besondere Ereignisse vergangen war.
    Manchmal glaubte ich, daß er insgeheim auf etwas dergleichen hoffte; denn jedesmal, wenn die Nachricht eintraf, verfiel er in entsetzte Verzweiflung: »Er ist noch da, noch da.«
    Er schlief abscheulich schlecht. Nacht für Nacht hörte ich ihn umherwandern, manchmal ging er sogar um zwei oder drei Uhr morgens auf die Straße … (Es gab Tage und Nächte, an denen ich Mister Trumpet aufs bitterste vermißte. Er hätte gewußt, was zu sagen oder zu tun war, und ich wußte es nicht.)
     

     
    In der Nacht des 22. ging er überhaupt nicht zu Bett. Ich glaube, er ist eine Weile ausgegangen und kam dann zurück, setzte sich in die Bibliothek und las sich laut vor. Zuerst dachte ich, er lese murmelnd die Bibel, aber dann entdeckte ich zu meiner Verwunderung, daß er »Robinson Crusoe« las. Ich habe nie rausgekriegt, warum er in einem solchen Augenblick auf so ein Buch zurückgriff. Als ich am Morgen nach unten kam, lag es noch geöffnet vor ihm, und er begann es sofort mit großer Lebhaftigkeit zu besprechen, als sei er eben erst darauf gestoßen.
    Es regnete – ein feiner, trübsinniger Regen, der einen durchtränkte, ohne, wie es schien, erst zu nässen. Wie grauenhaft, im Regen gehängt zu werden, dachte ich unablässig, während er weiterschwatzte. Denn er schwatzte wirklich, indem er unvermittelt von einem Thema zum andern sprang, und kümmerte sich nicht darum, ob Fragen beantwortet wurden oder nicht, solange er die Luft mit Worten statt mit Gedanken füllen konnte.
    Etwa um neun Uhr trat er ans Fenster und wollte nicht wieder fort. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite stand ein gut angezogener Mann in Schwarz. Das war der Mann, der jeden Morgen von Newgate gekommen war: heute trug er seine beste Kleidung. Sheringham wandte keinen Blick von ihm.
    Um halb zehn richtete sich derselbe schwarz gekleidete Mann auf. Er sah gespannt die Straße hinauf – und nickte. Danach nahm er den Hut ab und schritt mit bloßem Haupt auf Piccadilly zu. Er muß bis auf die Haut durchnäßt gewesen sein. Es war vorüber. Signale von einer Tyburn nächstgelegenen Stelle waren über die Dächer bis zur Dover Street weitergegeben worden.
    Dann plötzlich, ganz plötzlich drehte sich mein Freund um; sein meist verschlossenes Gesicht schien von einer ganz ungewöhnlichen Erregung förmlich verwandelt. Wenn ein anderer Ausdruck darauf gewesen war, etwa Trauer oder Angst, dann hatte es nur das Fenster gesehen und nur für den Bruchteil einer Sekunde. Sein neues Gesicht erhellte das Zimmer; ich habe nie einen Mann gesehen, dem sich ein so mächtiges Gefühl entrang.
    »Jack, weißt du, was für ein Tag es ist?«
    Ich konnte nicht denken. Ich wußte nicht, was er von mir erwartete.
    »Der Tag vor Heiligabend! Noch ein Tag! Komm, mein Junge. Worüber grübeln wir in diesem öden Zimmer? Komm raus und in die Stadt, und ich kaufe dir ein Weihnachtsgeschenk. Eines? Ich kaufe dir ein Dutzend.«
    Dann immer noch in seiner fieberhaften Erregung zerrte er mich raus – wartete nicht auf die Kutsche, achtete nicht des Regens – raus und hin zu den Läden um Haymarket.
    Das war eine erstaunliche Eingebung von ihm, ganz aus dem Augenblick geboren. Denn als wir zu den Läden kamen, entdeckte er, daß er ohne Geld gekommen war.
    Aber die Ladeninhaber erkannten ihn und fühlten sich geehrt, ihm Kredit zu geben. Wir gingen von einem zum andern. Wenn er gleich hätte zahlen müssen, hätte ich nicht halb soviel bekommen.
    Ich bekam eine emaillierte französische Uhr, ein Paar Schnallen aus Filigransilber, einen Stock mit Goldknauf, Seide und Samt für einen neuen Anzug, ein Paar ziselierte Pistolen, Duellsäbel – und der Himmel weiß, was sonst noch: mehr als genug, um eine
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