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Jack Holborn unter den Freibeutern

Jack Holborn unter den Freibeutern

Titel: Jack Holborn unter den Freibeutern
Autoren: Leon Garfield
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dem Strandkies, geduldig, unter kaltem Befehl – bis ein Mann, entweder aus
    Angst oder Eifer, sein Gewehr entlud!
    So blieb ihnen keine andere Wahl als die Vorsicht
    aufzugeben und aus dem Versteck zu stürmen, bevor
    die von Panik überwältigten Männer der Charming
    Molly zurück in ihr Boot fliehen konnten. Diejeni-
    gen, die das Boot an Land gezogen hatten, sprangen
    und legten sich platt in die Speigatts, bis das Musketenfeuer verschossen war. Die anderen – die größere Hälfte – waren schon halbwegs auf dem Strand, so
    daß sie durch den Hinterhalt abgeschnitten wurden.
    Ohne diesen einen verfrühten Schuß wäre kein einzi-
    ger zurück zum Boot gelangt.
    Jetzt begann ein Handgemenge von größter Wild-
    heit und Verwirrung. Buschmesser, Dolche, Säbel,
    Nägel und sogar Zähne wurden alle zugleich einge-
    setzt. Der verlorene Teil der Mannschaft zerstreute sich und kämpfte heftig, um wieder zur Pinasse zu gelangen, und die Angreifer, die gekratzt, gebissen, getreten und gehackt wurden, verfolgten sie in der
    wimmelnden Dunkelheit. Seltsame, verzweifelte Du-
    elle wurden ausgefochten, brachen ab, wurden mit
    einem Schrei wieder aufgenommen, zogen sich hin
    über die rutschenden Steine und endeten an einem
    Fleck in schmutziger Schwärze.
    Dann formierten sich die Angreifer von neuem,
    und unsere Männer bekämpften sich ein paar Sekun-
    den gegenseitig, bevor sie merkten, daß sie eine winzige Chance hatten. Wer konnte, floh, wer es nicht
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    konnte, lag wie ein schwarzer Seestern auf dem
    Strand. Einer oder zwei, die nahe genug lagen, wur-
    den an Bord der Pinasse geschleppt, aber den übrigen war nicht zu helfen, und sie sahen mit ihren letzten Blicken, wie alle Hoffnung auf Rettung keuchend
    und verzweifelt aufs Meer hinausschwamm. Schließ-
    lich scharrte die Pinasse an unserer Bordseite, und die Landemannschaft kroch zurück an Bord des verblüfften, schweigenden Schiffes.

    Ich glaube, schon als die Pinasse von der Küste ab-
    stieß, ahnte ich – nein, wußte ich fast sicher –, daß noch etwas anderes schiefgegangen war. Eine gewisse grausige Ziellosigkeit, ein Gefühl der Trostlosigkeit hing über dem Land und über dem verwaisten Boot
    und verkündete, daß etwas Wesentliches verloren war.
    Ich erwartete nicht, sein Gesicht unter denen zu
    sehen, die sich über die Reling hievten. Als er nicht der erste war, wußte ich, daß er nicht der letzte sein konnte: daher war es zwecklos zu warten.
    Ich dachte an den letzten Blick, den ich auf ihn
    geworfen hatte: sein weißes Gesicht unter dem Drei-
    spitz, das in die Nacht entschwand – und ich wurde
    von dem schmerzlichen Wahn gepackt, den Augen-
    blick zurückrufen zu wollen, so daß ich ihm warnend zuschreien konnte: »Kapitän! Man wird Sie töten. In fünf Minuten. Kommen Sie zurück!«
    Dann hörte ich Mr. Morris den Männern scharf
    befehlen, daß sie Platz machen sollten: »Tretet dort beiseite! Zurück! Zurück! Hört ihr mich?«
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    Über das Deck taumelte der etwas verschimmelte
    kleine Meister unter einer Last, bei der ihm niemand helfen durfte. Sehr sanft und eifersüchtig war er, sehr behutsam mit seiner kostbaren Bürde, obwohl ihm
    eine Menge Blut über die fast versagenden Arme rann und auf die Hose, ihm die Strümpfe streifte … Er ließ sich keinen Mann nahekommen und sagte nichts weiter als: »Er lebt, sage ich euch … er lebt … er lebt
    …« Immer und immer wieder. Mister Morris hatte
    zurückgebracht, was vom Kapitän noch übrig war.
    IV
    Er war dem Tod sehr nahe. Er hatte einen Stich in die Seite bekommen und viel Blut verloren. Mr. Morris
    stellte eine Wache vor seine Kajüte und ließ niemanden hinein. Er brachte selbst den Haferschleim rein, den Mr. Pobjoy zubereitete, und gab mir das blutige Verbandzeug zum Waschen. Näher kam ich an ihn
    nicht heran.
    In jener unheilvollen Nacht (die von Gott weiß
    welchem unglücklichen Zufall oder bitteren Verrat
    heraufbeschworen war) hatte man zehn Mann verlo-
    ren: neun an der Küste getötet und einen, der am
    nächsten Morgen an Bord seinen Wunden erlag.
    Wir segelten jetzt mit westlichem Kurs, der sinken-
    den Sonne entgegen. Der Wind war schwach und
    kam seitlich, so daß wir langsam fuhren und die Ne-
    belschwaden, die bei Morgengrauen aufkamen, über
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    uns hinrollten und die Masten vom Deck zu scheren
    schienen. Die Nebel waren schwer und naß, und
    wenn sie vergingen, trieften die Segel und das Takelwerk – als weinte die Charming Molly um ihren
    kranken
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