Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jack Holborn unter den Freibeutern

Jack Holborn unter den Freibeutern

Titel: Jack Holborn unter den Freibeutern
Autoren: Leon Garfield
Vom Netzwerk:
Kapitän.
    »Denn ein Schiff hat eine Seele wie ein Lebewe-
    sen«, sagte Mister Pobjoy eines Morgens, als er den Haferschleim ausschöpfte. »Kein Wunder, daß sie
    mit schlaffen Segeln läuft zu einem Furz von Wind.
    Sie ist nicht besser als eine Witwe, die in der Welt verlassen ist, mit niemandem, der sie lenken könnte –
    und keinem Hafen, der sie aufnimmt.«
    Tränen standen in seinen roten Augen, oder etwas,
    was ihnen aufs Haar glich.
    »Aber um Himmels willen, Mister Pobjoy!« rief
    ich aus. »Er ist noch nicht tot. Er lebt … atmet …
    wird wieder stark …«
    »Nicht tot … nein, nicht tot …« Er wischte sich
    die Nase und blickte verstohlen um sich. »Aber sein Geist läßt schnell nach. Manchmal spürt es Pobjoy in den Wanten, die sich freischütteln wollen. Und wenn es so wird – o, wenn diese großen Schwingen davon-rauschen, dann steht nichts mehr zwischen Pobjoy
    und dem Himmel!«
    Sein gewöhnlicher Ausdruck von gin-getränktem
    Elend und gin-geheiligtem Frieden war ihm aus dem
    Gesicht geschwunden. Statt dessen war es das Gesicht eines sehr jammervollen alten Mannes, der starr über die Bedeutung dessen, was er gesagt hatte, nachgrü-
    belte und sich fragte, ob sein Wort das Schicksal war 35
    und eine Katastrophe in der Zukunft heraufbeschwo-
    ren hatte, die unvermeidlich kommen mußte …
    »Hier. Bring ihm das – wenn er wirklich noch
    lebt.«
    Er schauderte und gab mir den Napf, den er verse-
    hentlich zu vollschöpfte.
    Sein Gerede lastete schwer auf mir, als ich behut-
    sam an der Backbordreling entlangging, denn der
    weiße Nebel an Deck war so dick, daß ein drei
    Schritt entfernter Mann nicht mehr war als ein Schatten und ebensogut ein Mast sein konnte.
    Ich dachte, ich sähe den Besanmast gerade vor mir
    – und wunderte mich, daß ich so weit aus meiner
    Bahn geraten war. Dann verschwand er, und ich
    meinte, daß es vielleicht Sam Fox war, der hoch aufgerichtet stand, wie manchmal an diesen weißen
    Morgen, als warte er auf etwas …
    Ich ging sehr vorsichtig, um nicht mit ihm zusam-
    menzustoßen – wenn er es war – und die Schale des
    kranken Mannes zu verlieren. Dann hörte ich, sehr
    leise und schwach, eine Stimme singen! Ich strengte die Ohren an, aber die hundert verschiedenen Zungen der Charming Molly begannen alle auf einmal
    zu flüstern, und ich war mir nicht sicher. Dann hörte ich es vielleicht wieder – dann wieder nicht – nicht für mehrere lange Sekunden – dann abermals, einen
    Fetzen davon, sehr dünn und weit entfernt:
    »Fahr’ ich in die Weite,
    komm’ ich doch wieder,
    fahr’ ich auch tausend Meilen oder mehr …«
    36
    Ich streckte die Hand aus, um einen Halt zu finden
    – und fand, daß ich hart an der Backbordreling
    stand. Und das war sehr seltsam, denn die Stimme
    war von links gekommen, wo es nichts gab als das
    leere Wasser …
    Ich gelangte zum Achterdeck, ohne sie wieder zu
    hören, aber mein Herz pochte so heftig, daß ich da-
    von geschüttelt wurde und kaum den Haferschleim
    ruhig halten konnte. Ich war furchtbar erschreckt
    worden und muß weißer ausgesehen haben als der
    Nebel, denn Mister Morris sah mich fragend an, als
    er den Napf in Empfang nahm und wollte wissen, ob
    ich krank würde. (Seit er den Kapitän pflegte, war er gütiger geworden, als hätte er sich’s dadurch angewöhnt.)
    »Geht es ihm besser, Mr. Morris?«
    »Ja-a … aber –«
    Ich wartete, weil mich das »aber« sehr beunruhig-
    te.
    »Er hat eine Menge Blut verloren und ist sehr
    schwach«, endete der Meister. »Meistens schläft er.«
    Ich war sicher, das war’s nicht, was er hatte sagen wollen, denn sein »aber« hing noch zwischen uns in
    der Luft. Trotzdem war nicht mehr aus ihm heraus-
    zukriegen.
    Daher ging ich mit düsteren Gedanken zurück zur
    Kombüse. Dann stand der Schatten des Hauptmastes
    plötzlich vor mir auf, und ich wäre zur Seite getreten
    – als er eine große Hand auf meine Schulter fallen
    ließ.
    37
    Ich sah, daß es Mr. Taplow war, der finster blickte und gegen die Schwaden die Augen zukniff. Er muß
    mich gesehen haben, wie ich achtern ging, und auf
    meine Rückkehr gewartet haben.
    »Ist er tot, Jack? Ist er tot?«
    »Er schläft, Mr. Taplow.«
    »Hast du ihn denn gesehen?«
    »Mister Morris hat’s mir gesagt –«
    »Gelogen! Er ist tot, und Mister Morris segelt für
    einen Geist!«
    »Das stimmt nicht! Er lebt –«
    »Tot! Tot! Tot! Tot wie Granit. Tot wie Eisen. Tot
    wie stinkendes Pech!«
    »Er lebt, sage ich Ihnen!«
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher