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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric
Autoren: Die Brücke über die Drina
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unter einer bequemen Entschuldigung, seinen Laden den größten
Teil des Tages geschlossen zu halten. Die Geschäfte in unmittelbarer Nähe der
Brücke und des Steinernen Chan, wie die Läden der Kaufleute Pawle Rankowitsch
und Alihodscha, waren den ganzen Tag geschlossen, denn sie waren der
Beschießung zu sehr ausgesetzt. Ebenso war auch Lottikas Hotel völlig geräumt
und geschlossen; sein Dach war durch eine Granate beschädigt und die Wände von
Schrapnellsplittern zerkratzt.
    Alihodscha kam nur ein- oder zweimal
täglich von seinem Hügel herunter, um nachzusehen, ob noch alles in Ordnung
sei, und kehrte dann wieder zu seinem Hause zurück.
    Schon am ersten Tage, als die
Beschießung der Brücke begann, hatte Lottika mit der ganzen Familie das Hotel
verlassen. Sie waren auf das linke Drinaufer gegangen und hatten Schutz in
einem neuen und geräumigen türkischen Hause gefunden. Das Haus lag abseits der
Straße, versteckt in einer Senke und verborgen in einem dichten Obstgarten,
aus dem nur sein rotes Dach hervorlugte. Sein Besitzer war mit der ganzen
Familie aufs Land gezogen.
    Mit der ersten Dunkelheit, in der
gewöhnlich völlige Ruhe herrschte, hatten sie das Hotel verlassen. Von der
Bedienung war nur der treue und unveränderliche Milan geblieben, ein alter
Hagestolz, der noch immer wie geleckt aussah, aber schon lange niemand mehr aus
dem Hotel hinauszuwerfen hatte; die anderen waren, wie es unter solchen
Umständen oft geschieht, geflohen, sobald die erste Granate über die Stadt
heulte. Wie immer und in allem, hatte Lottika auch bei diesem Umzug alles
geleitet und verteilt, allein und ohne Widerrede. Sie hatte bestimmt, was als
das Wichtigste und Wertvollste mitzunehmen und was zurückzulassen sei, was wer
anziehen solle, wer Deborahs verkrüppeltes und geistesschwaches Kind zu tragen
habe, wer die kranke und weinerliche Deborah selbst führen werde und wer Minna,
jene dicke, alte Jungfer, die vor Furcht fast außer sich war. So waren sie, Lottika,
Zahler, Deborah und Minna, die Dunkelheit der schwülen Sommernacht ausnützend,
mit einigen Sachen und dem kranken Jungen auf einem Handwagen und mit Koffern
und Bündeln in der Hand, über die Brücke gegangen. Seit dreißig Jahren war
jetzt das Hotel zum ersten Male völlig geschlossen und verlassen. Dunkel, schon
von den ersten Granaten beschädigt, glich es bereits einer alten Ruine.
Gealtert und unmündig, lahm oder fett geworden, krummbeinig und des Gehens
ungewohnt, hatten auch sie, schon nach den ersten Schritten über die Brücke,
plötzlich das Aussehen armer Juden angenommen, kümmerlicher Flüchtlinge, wie
sie seit undenklichen Zeiten die Landstraßen der Welt bevölkern.
    So waren sie auf das andere Ufer
hinübergekommen und hatten sich in dem geräumigen türkischen Hause zum
Übernachten niedergelassen. Auch hier hatte Lottika alles untergebracht und
verteilt, das Flüchtlingsgepäck und die Familie. Aber als sie sich selbst im
halbleeren, fremden Zimmer niederlegen sollte, ohne ihre Sachen und Papiere,
mit denen sie ein Menschenalter verbracht hatte, da war sie zusammengebrochen,
und zum ersten Male in ihrem Leben hatten sie alle Kräfte zugleich verlassen.
Durch das öde türkische Haus schallten ihre Klagen; es geschah, was noch
niemand je gesehen oder gehört, noch geahnt hatte: Lottika weinte, grausig,
schwer und unterdrückt, wie ein Mann, aber unaufhaltsam und unaufhaltbar. In
der Familie trat darauf ein erschrecktes, beinahe andächtiges Schweigen ein,
und dann begann ein allgemeines Wehgeschrei und Klagen. Für sie war dieser
Zusammenbruch von Tante Lottikas Kraft ein schwererer Schlag als Krieg, Flucht
und Verlust von Haus und Hof, denn mit ihr ließ sich alles überstehen und
überwinden, ohne sie aber konnte man nichts beginnen und erdenken.
    Als am nächsten Morgen ein
strahlender Sommertag mit Vogelgesang, rosafarbenen Wolken und ausgiebigem Tau
anbrach, da beschien er statt der bisherigen Lottika, die noch bis gestern
abend die Geschicke aller Ihrigen geleitet hatte, eine auf der Erde
zusammengekauerte, alte und hilflose Jüdin, die nicht einmal für sich selbst
zu sorgen vermochte, die nur vor unverständlicher Furcht zitterte und wie ein
Kind weinte, ohne sagen zu können, wovor sie sich fürchtete oder was ihr
wehtat. Aber da trat ein neues Wunder ein. Jener alte, schwerfällige,
schläfrige Zahler, der nicht einmal in seiner Jugend einen eigenen Willen und
eine eigene Meinung gehabt hatte, sondern sich, wie auch die ganze
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