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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric
Autoren: Die Brücke über die Drina
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blaugefrorenen
Händen gehalten hatte, legte es auf den steinernen Sitz und wickelte es in ein
Einschlagtuch. Das Kind aber war still, als läge es in der Wiege, bald schlief
es, bald öffnete es neugierig die Äuglein, ganz als hätte es Anteil an der
allgemeinen Fröhlichkeit. – »Man sieht, es ist ein Wischegrader«, sagte der
Pate, »es liebt die Gesellschaft und einen schönen Platz zur Unterhaltung.«
    »Leben sollst du, Janko«, rief einer
der Nachbarn, »möge dein Sohn glücklich werden und lange leben; gebe dir Gott,
daß er eine Zierde unter den Besitzern und einer der Ersten im Stamme der
Serben werde und an allem Gut und Überfluß seinen ehrenvollen Anteil habe. Gebe
dir Gott ...«
    »Ja, aber wie wäre es, wenn wir
jetzt erst einmal zur Taufe gingen«, unterbrach ihn der Vater.
    »Das Taufen schaffen wir schon
noch«, riefen sie alle einstimmig und nahmen einen tüchtigen Schluck Raki.
    »Ragib Effendi Borowatz ist ja auch
nicht getauft, und sieh ihn dir an, was für ein Kerl der ist: das Pferd biegt
sich unter ihm«, sagte einer der Nachbarn unter allgemeinem Gelächter.
    Hatte aber die Zeit für diese
Menschen auf der Kapija ihr Maß verloren, so hatte sie es nicht für Pope
Nikola, der eine Weile vor der Kirche gewartet hatte, dann wütend geworden war,
seinen Fuchspelz angezogen hatte und vom Mejdan in die Stadt hinunter gegangen
war. Dort sagte ihm irgend jemand, daß die Leute mit dem Kind auf der Kapija
seien. Er ging zu ihnen hinaus, um sie auszuschelten, wie nur er zu schelten
vermochte, sie aber empfingen ihn mit einer so freudigen und aufrichtigen
Hochachtung, mit so feierlichen Entschuldigungen und so warmen Wünschen und
guten Worten, daß auch Pope Nikola, der ein scharfer und strenger Mann, aber
in seinem Herzen ein echter Wischegrader war, nachgab und sich zu einem Bissen
und einem Schluck aus der Flasche niedersetzte. Er beugte sich über den Kleinen
und sagte vor lauter Zärtlichkeit einen saftigen Fluch auf seine Großmutter;
das Kind aber betrachtete friedlich sein breites Gesicht mit den großen blauen
Augen und dem langen rotblonden Vollbart.
    Es stimmt nicht ganz, was man
erzählt, daß der Kleine auf der Kapija auch getauft worden sei, soviel aber ist
richtig, daß sich dort eine lange Unterhaltung mit schwerem Trinken und vielen
Trinksprüchen entspann. Erst spät am Nachmittag stieg die ganze lustige
Gesellschaft zum Mejdan hinauf und öffnete die Kirche, in der sich der Pate,
mit schwerer Zunge und Schluckauf, im Namen des neuen Wischegraders vom Teufel
lossagte.
    »So haben wir Gevatter Petar
getauft, möge er lange leben und gesund bleiben, nun ist er schon über die
Vierzig hinaus, und nichts fehlt ihm«, schließt Pate Michailo seine Erzählung.
    Alle erfrischen sich mit noch einem
Raki und einem Kaffee und vergessen dabei die Wirklichkeit, um sie leichter zu
ertragen. Alle sprechen sie leichter und freier, und allen kommt irgendwie zum
Bewußtsein, daß es im Leben noch andere, menschlichere und frohere Dinge gibt
als diese Finsterheit, Furcht und menschenmordende Schießerei.
    So vergeht ihnen die Nacht und mit
ihr das Leben, erfüllt von Gefahr und Tod, aber klar, unbeugsam und gerecht in
sich. Geleitet von uralten und ererbten Trieben, teilen und zerlegen sie es in
vorübergehende Eindrücke und unmittelbare Bedürfnisse und verlieren sich völlig
in ihnen. Denn nur so, jeden Augenblick für sich durchlebend, ohne vorwärts
oder rückwärts zu schauen, läßt sich ein solches Leben ertragen und der Mensch
sich für kommende bessere Tage bewahren.
    Dann aber dämmert es. Das bedeutet
nur, daß das Feuer lebhafter wird und daß das unverständliche und unabsehbare
Spiel des Krieges im Licht des Tages weitergeht. Denn der einzelne Tag hat
weder Namen noch Sinn mehr, die Zeit hat Bedeutung und Wert verloren. Die
Menschen vermögen nur zu warten und zu bangen. Im übrigen denken, arbeiten,
sprechen und bewegen sie sich wie Automaten.
    So und ähnlich lebte das Volk in den
steilen Stadtvierteln unterhalb der Festung und auf dem Mejdan.
    Unten aber, um den Marktplatz, waren
nur wenige Einwohner geblieben. Schon am ersten Kriegstage hatte man befohlen,
die Geschäfte offen zu halten, damit das Militär seine kleinen Einkäufe
besorgen könne, noch mehr aber, um der Bevölkerung zu zeigen, daß der Feind
noch in weiter Ferne sei und keine Gefahr für die Stadt bestehe. Dieser Befehl
war irgendwie auch jetzt noch während der Beschießung in Kraft geblieben, aber
jeder suchte
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