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Irrliebe

Irrliebe

Titel: Irrliebe
Autoren: Klaus Erfmeyer
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war Außenseiterin geblieben. Marie hatte inzwischen Abstand zu Franziska gewonnen. Ihr unbeantworteter Brief war unwichtig geworden. Das Foto, das Marie und Franziska mit Victory-Zeichen zeigte und von Marie abseits der sonstigen Erinnerungsfotos aus der Schulzeit in einer Schublade vergraben worden war, hatte sie erstmals wieder in die Hand genommen, als sie ihre Wohnung in der Brunnenstraße auflöste, um mit Stephan, ihrem Freund, zusammenzuziehen.
    Marie hatte sich auf das Klassentreffen gefreut und dann ernüchtert feststellen müssen, dass die gemeinsame Schulzeit nur noch eine sich verflüchtigende Basis verklärender Erinnerungen war und häufig zugleich das schnelle Ende vieler Gespräche bedeutete. Das Leben hatte die frühere Gemeinschaft geteilt; die eigenen Karrieren und erste Familiengründungen wurden stolz präsentiert und bewundert. Aus den Schülerinnen und Schülern waren erste Verlierer und Gewinner hervorgegangen. Man war einander nicht mehr gleich; nunmehr konnte man vergleichen.
    Franziska erschien spät am Abend, als sich die ersten bereits verabschiedeten. Sie war fülliger als früher, ihr Gesicht unreiner und grobporiger geworden. Sie trug eine straff sitzende Jeanshose und ein enges Shirt, wodurch ihre dicker gewordenen Oberschenkel und ihre gewachsene Oberweite deutlich konturiert wurden.
    »Meine Freundin Marie!«
    Franziska drückte Marie an sich, und Marie fühlte sich an den festen Griff um ihre Taille am Tag der Abiturfeier erinnert.
    »Du hast nicht geantwortet«, begann Marie und löste sich.
    Franziska wehrte ab und schüttelte lächelnd den Kopf. »Aber du hast mich doch verlassen, Marie, was sollte ich dir dazu schreiben?«
    Marie gelang, was sie früher nicht geschafft hatte: Sie hielt Franziska den Spiegel vor, gab Verantwortung zurück, bemitleidete sie und wollte sich gerade von ihr trennen, als Franziska sie erneut umarmte. Jetzt tat sie es ohne Druck, fast zärtlich, scheu und beinahe demütig.
    »Ich habe an mir gearbeitet«, erklärte sie stolz, »und es ist viel passiert in den letzten Jahren.«
    Sie berichtete, dass sie Krankenschwester geworden sei und nun im Marien-Hospital in Dortmund-Kurl arbeite, nachdem sie sich unglücklich in einen Pfleger verliebt hatte, den sie auf ihrer letzten Arbeitsstelle im Klinikum Nord kennengelernt hatte. Nun wohnte sie schon seit drei Jahren mit Daniel zusammen, einem Informatiker, den sie über das Internet kennengelernt hatte.
    Franziska hielt inne und sah Marie mit weichem Blick ins Gesicht.
    »Bist du liiert?«, fragte sie schließlich und stellte die Frage, die vertraut schien und zugleich zeigte, wie fremd man einander geworden war.
    Marie erzählte von Stephan Knobel, mit dem sie seit vier Jahren zusammen war und seit einiger Zeit in einer Mietwohnung in Dortmund-Asseln wohnte.
    »Anwalt«, wiederholte Franziska staunend, als Marie ihre Frage nach Stephans Beruf beantwortet hatte. »In deinem Leben läuft alles glatter als bei mir. Ich bewundere dich, Marie. – Nein, ich beneide dich! Ehrlich!« Sie streichelte Marie über den Arm wie eine Mutter ihr Kind, das sie für eine gute Leistung loben wollte.
    Und bevor Marie entgegnen konnte, wie fragwürdig ihr es erschien, den Wert des Lebens an Äußerlichkeiten festzumachen, fuhr Franziska fort: »Daniel ist nicht der Richtige. Ich spüre es seit vielen Monaten. Er hängt an mir, ich weiß nicht, warum, aber es ist so. Er hilft mir immer und überall. Er bemuttert mich förmlich. Es gibt nichts, worum er sich nicht bei uns kümmert. Und weißt du was: Genau das, was ich mir eigentlich wünsche, kotzt mich an. Er hängt wie eine Klette an mir, kocht, putzt und bedient mich wie eine Herrin. Und genau dafür könnte ich ihn treten.«
    Franziska präsentierte ihren Überdruss, opferte den Marie unbekannten Daniel und bewegte sich scheinbar sicher auf dem Parkett einer zwischen den beiden Frauen nie da gewesenen Vertrautheit.
    »Sag mir, dass ich bescheuert bin, Marie, aber ich muss wieder auf die Suche gehen. Vielleicht gibt es ihn doch, den Mr. Chiffre.«
    Sie zwinkerte vertraulich mit den Augen. »Erinnerst du dich, Marie? Wir haben es damals nicht ernsthaft betrieben. Es war nur ein Spaß. Aber jetzt will ich es wirklich versuchen. Ich will meinen Mr. Chiffre finden!«
    »Franziska …!«
    »Nein, Marie, ich will es so. Ich muss den Weg selbst gehen, ich muss für mich Verantwortung übernehmen. Ich muss Geduld haben, bis ich den Richtigen finde. Du hattest recht: Man muss sich
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