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Irrfahrt

Irrfahrt

Titel: Irrfahrt
Autoren: Gerhard Grümmer
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nahm an einem Schulungskurs teil und war plötzlich SA-Führer. Ein weiterer Aufstieg in dieser Organisation schien ihm gewiß, denn die meisten seiner Vorgesetzten wurden Treuhänder oder Kreisleiter im Generalgouvernement - im GG, wie Rämisch protzig sagte - oder in Frankreich. Rämisch hoffte auf einen ähnlich lukrativen Posten. Von nun an gab er sich militärisch. Er trug fast immer Uniform, und seine benagelten Langschäfter knallten auf den Steinfußboden der Flure. Alle zitterten vor ihm, sogar der Direktor. Durch seinen kometenhaften Aufstieg, dessen Ende niemand absehen konnte, war der Hausmeister ein gefährlicher Mann. Deshalb wurde bei wichtigen Angelegenheiten die Meinung des «lieben Parteigenossen Rämisch» eingeholt. Dieser allein bestimmte, welche Lieder bei einer Schulfeier zu singen waren, ob für die Turnhalle ein Barren oder eine Matte angeschaft wurde, welche Klassen in den Kartoffeleinsatz fuhren und ob ein tot aufgefundener Fischadler für die Sammlung der Schule ausgestopft werden durfte.
    Rämisch benutzte seinen wachsenden Einfluß, um sich auch in anderer Hinsicht Respekt zu verschaffen. Ein Studienrat, der über die mangelhafte Reinigung des Chemiezimmers Klage führte, erhielt kurz darauf seine Einberufung und kam als Infanterist an die Westfront. Die Schüler gönnten diesem Lehrer, der wegen seiner Strenge nicht beliebt war, den Zusammenstoß mit Rämisch. Doch bald schon bedauerten sie seinen Fortgang. Er war zwar streng gewesen, aber gerecht und hatte ihnen in Mathematik, Physik und Chemie etwas beigebracht.
    Sein Nachfolger Dr. Hollmann war dem Lehrstoff in keiner Weise gewachsen. Jedermann blieb unbegreiflich, wie dieser Nichtskönner den Doktorgrad erlangt hatte. Die Hälfte des Unterrichts verging mit NS-Tiraden, bei denen er sich zu merkwürdigen Behauptungen verstieg. Einige Schüler schrieben mit und fragten in der nächsten Lateinstunde Dr. Gall: «Stimmt es, Herr Oberstudiendirektor, daß Liberalismus genau das Gegenteil des Nationalsozialismus ist?»
    Gall, bereits mißtrauisch, fragte sofort zurück: «Das hat wohl Doktor Hollmann gesagt?» Um die Ehre der Anstalt zu retten, sah Gall sich zu längeren Ausführungen über Systemzeit und Wirtschaftskrise, Arbeitsbeschaffung durch Autobahnen, Marktordnung der Konzerne unter Führung des «Beauftragten für den Vierjahresplan» gezwungen. Endlich klingelte es. Zur großen Freude der Klasse war eine Lateinstunde ohne Aufregung vorübergegangen.
    Bei Erläuterung der Hyperbelfunktionen stellte Hollmann Aufgaben, die als «Rückwärtseinschneiden von zwei Punkten» bekannt waren. Die Heeresgruppe wußte, daß es bei der Artillerie tatsächlich Schallmeßtrupps gab, die nach diesem Prinzip arbeiteten. Daraufhin wurde ein Geländespiel abgesagt und ausnahmsweise zu Hause Mathematik gepaukt.
    Für den Rechenstab interessierten sich hingegen die künftigen Flieger. Wie ein Kommandant seinen Kurs mit einem derartigen Gerät berechnet, hatten sie in der Wochenschau gesehen. Das war nun wieder der Heeresgruppe vollkommen gleichgültig.
    In Geometrie wurde folgende Aufgabe gestellt: Welchen Kurs muß ein Torpedoboot steuern, damit bei Seitenwind eine Nebelwand in eine bestimmte Richtung zu liegen kommt? Der Flottenverein machte sich voller Begeisterung an die Lösung, und die Klassenkameraden schrieben sie in der Pause ab.
    Da jede Gruppe nur zeitweise mitarbeitete, wußte Hollmann am Ende des Schuljahres nicht, wie er den einzelnen Schüler bewerten sollte. Der Einfachheit halber übernahm er die Noten, die sein Vorgänger erteilt hatte. Ein Sitzenbleiber, der sich Mühe gab und im Wiederholungsjahr ein leidlich guter Schüler war, bekam selbstverständlich wieder «mangelhaft».
    Dr. Hollmann hatte rötlich-blondes Haar und blaue Augen. Er hielt sich für den Inbegriff des reinrassigen nordischen Menschen. Zu seinem Kummer war er jedoch nur knapp mittelgroß. Sobald die Merkmale der nordischen Rasse aufgezählt werden mußten, nannten die Schüler an erster Stelle die überragende Körpergröße und legten eine bedeutungsvolle Pause ein, ehe sie die Augen- und Haarfarbe beschrieben. Das brachte Hollmann jedesmal zur Verzweiflung. Als dann Helmut Koppelmann aus einem Geschichtsbuch der Weimarer Zeit vorlas, daß die germanischen Völker ursprünglich im Kaukasus gelebt hätten, war das Maß voll. Es fehlte nicht viel, und Helmut wäre von der Schule gejagt worden.
    Obwohl Gall wußte, daß Hollmann als Lehrer versagte, ging er nicht
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