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Irrfahrt

Irrfahrt

Titel: Irrfahrt
Autoren: Gerhard Grümmer
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jedesmal umfangreiche und nicht selten kostspielige Reparaturen zur Folge hatte. Von Zeit zu Zeit verschwanden einige der Lufthelden für mehrere Wochen aus der Schule, um an Lehrgängen teilzunehmen. Stolz kamen sie mit einem Abzeichen wieder, das eine bestandene A-, B- oder C-Prüfung anzeigte. Danach hießen sie in der Klasse auch die ABC-Schützen. Die Gruppe der Flieger aber begrüßte jeden erfolgreich heimgekehrten Piloten im Klassenzimmer mit einem «Kranichschrei», der mit komischen Verrenkungen des Körpers verbunden war.
    Hans-Joachim Stolt, wegen seiner hohen Stimme «Gockel» genannt, war Anführer der Fliegergruppe. Sein Ansehen in der Klasse beruhte darauf, daß er als einziger über die Oberleitungsdrähte der Straßenbahn spucken konnte, ganz nach Belieben stehend, laufend oder beim Radfahren. Stolt träumte davon, als Jagdflieger in einer Me 109 zu sitzen. Die Flugzeugtypen aller Nationen kannte er genauso wie der Flottenverein seine Kriegsschiffe.
    Zu den ABC-Schützen rechnete auch Brämmel. Er war jedoch mehr Techniker als richtiger Flieger. Später wollte er einen Raketenantrieb für schnelle Flugzeuge entwickeln. Brämmel hatte Kummer mit seinen Augen und war Brillenträger. Trotzdem hoffte er, mit etwas Glück bei der Fliegerei unterzukommen. Man riet ihm zur Luftnachrichtentruppe. Sie stand zwar in der allgemeinen Wertschätzung weit unter der Fliegerei, stellte aber geringere Anforderungen an die Sehschärfe.
    In der Schule wurde auf höhere Weisung eine Arbeitsgemeinschaft Flugphysik eingerichtet, der die ABC-Schützen sofort geschlossen beitraten. Mit Hilfe einer neu angeschafften Apparatur, zu der ein großer Windkanal gehörte, wurden viele Wochen hindurch Polardiagramme vermessen. Obwohl man dazu immer wieder dieselben Geräte und Modelle benutzte, erhielt man jedesmal andere Ergebnisse. Die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft ließen schwere Verdächtigungen gegen Wissenschaft und Technik laut werden, noch schwerere gegen die Herstellerfirma des Gerätes.
    Ebenso zahlreich wie die Flieger war die «Heeresgruppe». Ihre Mitglieder veranstalteten ausgedehnte Geländeübungen und Orientierungsmärsche, bei schlechtem Wetter Spiele am Sandkasten. Für derartige Bemühungen hatte der Flottenverein nur ein mitleidiges Lächeln übrig.
    Vorerst zog es keinen der künftigen Landkrieger zur Infanterie; alle wollten sich bei der Panzer- oder Nachrichtentruppe, mindestens aber bei der Artillerie bewerben.
    Bald sprach sich herum, daß die Beförderungsaussichten für junge Bewerber in den Infanterie-Einheiten wesentlich günstiger waren als bei Waffengattungen mit komplizierter Ausbildung. Daraufhin wurde mancher unsicher, ob Nebelwerfer nun das richtige wäre. Jeder hatte nur den einen Wunsch: Leutnant zu sein, bevor der Krieg zu Ende ging. Insgeheim hofften alle in der Klasse auf einen langen Krieg; über die schnellen Anfangserfolge waren sie fast enttäuscht.
    Anführer oder «Chef der Heeresgruppe», wie er sich titulieren ließ, war und blieb Wolfram Diederich. Er brachte umfängliche Kenntnisse von den Lehrgängen auf Jungvolkführerschulen mit, die er häufig besuchte, und zwar grundsätzlich während der Schulzeit. Mit fünfzehn Jahren war er bereits Fähnleinführer - in den Augen seiner Altersgenossen eine unerhörte Karriere.
    Diederichs Vater war strammer Pg. Manche Leute wollten wissen, daß er heimlich ausländische Sender hörte, denn er war immer sehr gut informiert. Auch Wolfram glänzte mitunter durch Kenntnisse, die er nicht aus der Volksküche des großdeutschen Rundfunks bezogen haben konnte.
    Schließlich gab es in der Klasse noch einige Schüler, die keiner der drei Gruppen angehörten. Gewissenhaft erledigten sie das aufgetragene Pensum Schularbeiten, einer von ihnen wollte sogar studieren. Solche «Drohnen am Volkskörper», wie Diederich sie nannte, wurden allgemein verachtet. Selbst Koppelmann, der sich wenigstens auf seine Lieblingsfächer vorbereitete, geriet manchmal in den Verdacht, ein Streber zu sein. Außerdem war er der beste Schüler in Latein, was beinahe als ehrenrührig galt.
    Diederich und Stolt vertraten die Ansicht, daß überdurchschnittlich kluge und fleißige Menschen immer verdächtig waren. Vor allem waren sie, wie die Geschichte an zahlreichen Beispielen bewies, nur selten gute Soldaten. Die Vorbilder, denen ein deutscher Junge in Kriegszeiten nachzueifern hatte, zeichneten sich einzig und allein durch Kampfesmut, Tapferkeit, Treue und Opfersinn
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