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Irrfahrt

Irrfahrt

Titel: Irrfahrt
Autoren: Gerhard Grümmer
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aus. Für solche Helden stand der finstere Hagen von Tronje ebenso wie Horst Wessel und neuerdings der ritterkreuzgeschmückte U-Boot-Kommandant Günther Prien, der das Husarenstück fertiggebracht hatte, sich bei Nacht und Nebel in die stark befestigte schottische Bucht Scapa Flow einzuschleichen und das britische Schlachtschiff «Royal Oak» zu versenken. Ob dieser grandiosen Leistung triumphierte der Flottenverein, und mancher schwache Schüler tröstete sich mit dem Gedanken an ähnliche Ruhmestaten, die er für Führer, Volk und Reich vollbringen würde.
     
    Direktor des Realgymnasiums war Dr. Gall. Durch eine Intrige, die in der Stadt helle Empörung auslöste, hatte er 1936 den langjährigen Direktor der Anstalt vorzeitig in den Ruhestand versetzen lassen. Gall war damals Kreisschulungsleiter und somit oberster Parteibonze in der Schule. Die Pg.s unter der Lehrerschaft fanden es ganz natürlich, daß er den Direktorposten bekam.
    Seit Kriegsausbruch sah man ihn nur noch selten in Zivil. Er trug die hellbraune, mit Goldborte reich verzierte Parteiuniform. Bei den Schulfeiern hielt er lange Reden, in denen es von klassischen Sprüchen nur so wimmelte: «Duke et decorum est pro patria mori», «Wanderer, kommst du nach Sparta, sage dorten, du habest uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl». Helmut Koppelmann, der Zitate liebte, notierte sich mehrere Dutzend davon und schrieb sie mit Schönschrift in ein ledergebundenes Heft.
    Ansonsten unterrichtete Gall, wenn er Zeit hatte, Latein und Geschichte. Die Römer waren sein Steckenpferd; er kaute sie ausgiebig durch. Im folgenden Jahr mußte die Klasse den Zeitraum vom Untergang des Römischen Reiches bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges überspringen, um wieder Anschluß an das Lehrprogramm zu finden.
    Früher hatte Gall einen guten Unterricht gehalten; er galt als hervorragend befähigter Pädagoge. Seit er Direktor war, paßte er sich der im neuen Lehrplan geforderten Interpretation an. Wie das Römische Reich unterging, machte er seinen Schülern mit folgendem Satz klar: «Die römischen Patrizier waren gegen Ende ihrer Herrschaf in zunehmendem Maße jüdisch-ostisch- mittelmeerisch versippt, was infolge des Fehlens einer bodenständig-tragfähigen Oberschicht aus nordisch- germanischem Blut zwangsläufig den rassischvölkischen Untergang zur Folge hatte.»
    Natürlich glaubte niemand an diesen hochgestochenen Unsinn, wahrscheinlich nicht einmal Gall selbst. Sogar die hundertprozentig zuverlässigen Fähnleinführer, die ähnliche Sätze vor ihren Pimpfen verzapfen mußten, machten sich darüber lustig. Trotzdem erfreute sich das Bindestrich-Gerede einer gewissen Beliebtheit bei den Schülern; es war geeignet, den Mangel an genauen Kenntnissen zu verschleiern.
    In Latein war das nicht so leicht möglich. Ostern 1940 begann die Klasse Caesars «Kommentare zum Gallischen Krieg» zu lesen. Direktor Gall peinigte sie unaufhörlich. «Gallia omnis divisa est in partes tres, quarum unam incolunt Belgae...»
    Heinz Apelt mußte übersetzen. «Gallien in seiner Gesamtheit wird eingeteilt in drei Teile, von denen einen die Belgier bewohnen...» Das ging ja noch. Aber nun prasselten peinliche Fragen auf den armen Schüler hernieder: Welcher Casus ist quarum? Wie heißt hierzu der Nominativ singularis? Auf welches Wort im Hauptsatz bezieht sich quarum?
    Viele hatten eine Klatsche im Pult versteckt. Sie lieferte zwar eine wortgetreue Übersetzung, half aber bei derartigen Fragen sehr wenig. Ein Schulmann hatte vor langen Jahren dieses Werk verfaßt - zum Segen der Pennälerschaft und zum ständigen Ärger der Lateinlehrer.
    Die Einteilung des alten Gallien war nicht ohne Interesse, zumal im Frühsommer 1940 durchaus Veranlassung bestand, die Landkarten Frankreichs und Belgiens zur Hand zu nehmen.
    Caesar brach mit seinen Legionen in Gallien ein. Hitlers Divisionen taten dasselbe. Mühsam quälte sich die Klasse durch das Gestrüpp der lateinischen Grammatik. Schließlich hatten Caesars Truppen die Nervier zum Kampf gestellt; laut Karte wohnte dieser Volksstamm in dem Gebiet, das jetzt Belgien hieß. Die Nervier wurden umzingelt und vernichtend geschlagen. Täglich kündigten Fanfarenstöße im Radio siegesstolze Sondermeldungen an: Deutsche Panzerdivisionen rieben die belgische Armee auf und zwangen sie zur Kapitulation. Bei Dünkirchen endete eine Schlacht mit der Flucht eines Großteils der britisch-französischen Truppen über den Kanal.
    Väter, die im
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