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Irrfahrt

Irrfahrt

Titel: Irrfahrt
Autoren: Gerhard Grümmer
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sich dem Lager näherten, hörte man kernige bayrische Flüche ebenso wie plattdeutsche Sätze. Aus verschiedenen Teilen des Reiches hatte man sie zusammengeholt, um sie drei Monate lang auf ihre militärische Ausbildung vorzubereiten.
    In der Schar befanden sich auch die Mitglieder des Flottenvereins. Im Grunde genommen war ihnen die Sache schon fast gleichgültig. Sie hatten sich freiwillig gemeldet und waren mit einem Reifevermerk, der zum Studium berechtigen sollte, von der Schule entlassen worden. Aber mit ihrer Bereitschaft kamen sie offensichtlich zu spät. Von Woche zu Woche meldete der Wehrmachtbericht höhere Versenkungsziffern im Handelskrieg gegen England. Demnach konnte von den neun Millionen Tonnen britischen Schiffsraumes nicht mehr viel übrig sein. Im Osten fraßen sich die Panzerkeile tief in das weite Land; deutsche Truppen hatten Beresina und Dnepr bereits überschritten.
    «Hier sitzen wir nun drei Monate fest» sagte Heinz Apelt wütend. «Sicherlich kommen die Panzerfahrer und U-Boot-Besatzungen eher nach Hause als wir.»
    Helmut Koppelmann zitierte einen kostbaren Vers von Hesiod, der auf die Schulfahne gestickt war: Vor den Erfolg setzten die unsterblichen Götter den Schweiß.
    Gerhard Gerber, der zum ersten Male in seinem Leben das Elternhaus für längere Zeit verließ, war niedergeschlagen und sagte gar nichts.
    Am Tor wartete ein Angehöriger des Arbeitsdienstes; er trug zwei silberne Streifen auf den Schulterklappen, war also ein Obervormann. Die drei hatten sich vorsichtshalber einen Taschenkalender mitgenommen und auf der Fahrt noch schnell die Rangabzeichen des Arbeitsdienstes auswendig gelernt. Der Obervormann verteilte seine Leute auf die einzelnen Truppstuben. Die drei Freunde blieben glücklicherweise zusammen.
    «Ab sofort habt ihr müden Säcke euch im Lager nur im Laufschritt zu bewegen», brüllte der Obervormann. «Auf die Truppstuben weggetreten!» Gehorsam trabten alle mit ihren Pappkoffern los, in einer Gangart, die in den kommenden Monaten ihre wichtigste Bewegungsform werden sollte.
    Der Obervormann hieß Rutsche. Apelt, Gerber und Koppelmann gehörten zu seinem Trupp. Rutsche war äußerlich das Ideal eines nordischen Menschen. Er hatte hellblondes Haar, blaue Augen und eine athletische Figur. Die Abende verbrachte er grundsätzlich außerhalb des Lagers. In drei benachbarten Dörfern hatte er je eine «Braut» sitzen die er umschichtig besuchte. Selten kam er vor Mitternacht zurück.
    Rutsche schlief mit seinem Trupp in einem umgebauten Kuhstall. Ein ehemaliger Arbeiter des Vorwerks erzählte, daß an der Stelle, wo Rutsches Koje war, früher der große Bulle seinen Platz gehabt hatte. Es gab ein ungeheures Gelächter. Die Witzeleien nahm Rutsche gelassen hin; offenbar fühlte er sich geschmeichelt.
    Die neuen Arbeitsmänner wurden eingekleidet. Der Kammerbulle musterte jeden einzelnen kurz und warf ihm Jacke und Hose zu. «Paßt!» sagte er. Und es paßte wirklich! Die Männer schauten sich verwundert an; sie waren aus den Konfektionsgeschäften andere Methoden gewohnt. Es zeigte sich jedoch, daß der Kammerbulle im Laufe der Jahre ein vortreffliches Augenmaß erworben hatte. Nur ganz wenige Stücke mußten getauscht werden. Zu der Uniform gehörte auch eine Mütze, deren Form an ein menschliches Gesäß erinnerte.
    Mit einem Haufen Zeug in der Zeltbahn setzten sich die Eingekleideten in Richtung Truppstube in Bewegung. Heinz Apelt legte, wie befohlen, einen scharfen Trab vor. Als trainierter Sportler hielt er das mühelos durch. Gerhard Gerber zuckelte gemächlich hinterdrein, so daß gerade noch von Laufschritt gesprochen werden konnte. Helmut Koppelmann dagegen riskierte es, mit seiner schweren Last im Schritt zu gehen.
    Plötzlich war Rutsches Kopf am Fenster zu sehen. Er fauchte Koppelmann an: «Sie müder Braten! Laufschritt habe ich befohlen! Drei Runden um den Hof!»
    Schwitzend langte Helmut einige Minuten später in der Truppstube an. Nun war es an Gerhard, ihm das berühmte griechische Zitat unter die Nase zu reiben. Von Erfolg war allerdings noch nichts zu bemerken, um so mehr von Schweiß, und anstelle der unsterblichen Götter amtierte hier zunächst einmal der allmächtige Obervormann Rutsche.
    Gerhard zog aus diesem Vorkommnis eine wichtige Schlußfolgerung: Nur nicht auffallen! Nicht mehr tun als nötig, aber auch nicht weniger! Mitten im Strom schwimmen und nur nicht auffallen!
    Ein wenig beklommen musterten sich die drei in ihrer Uniform. Sie kamen
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