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Irrfahrt

Irrfahrt

Titel: Irrfahrt
Autoren: Gerhard Grümmer
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Studienrat Gerber sagte nur dieses eine Wort.
    Im Hause des Arztes Dr. Apelt herrschte Begeisterung. Heinz las seinen beiden Freunden entscheidende Passagen aus «Mein Kampf» vor: Landeroberungen in Europa, in Rußland und den ihm untertanen Randstaaten. Endlich! Die alte Linie, die der Führer weitblickend schon vor Jahrzehnten propagiert hatte, wird sich nun verwirklichen. Heinz redete ununterbrochen, wie ein hauptamtlicher Schulungsleiter.
    Helmut Koppelmann dachte wieder einmal praktisch. «Ergo, der Krieg geht weiter. Wir sind jetzt siebzehn, und wenn wir Glück haben, kommen wir noch an die Reihe.»
    Am nächsten Tag hörten die Schüler, was ihre Lehrer von der jüngsten Wendung der deutschen Politik hielten. Direktor Gall wölbte den Brustkorb und sprach von hehren Traditionen der Ostlandpolitik, von Ritterorden, Landnahme und Volkstumskampf. Der Polenfeldzug sei nur die Vorbereitung dessen gewesen, was nun im großen Maßstab begann.
    Kuhle hatte eine Wirtschaftskarte aufgehängt. Sachlich erläuterte er seinen Schülern das wirtschaftliche Potential der Sowjets. «Von der Demarkationslinie aus dem Jahre 1939 sind es bis zum Donezbecken 1100 Kilometer, bis zum Industriegebiet im Raum bei Moskau ebensoviel. Baku mit seinen Ölquellen ist auf dem Landwege mehr als 2000 Kilometer entfernt, das neue Ölgebiet östlich der Wolga 1700 Kilometer.» (Er sagte ,«östlich», obwohl es laut militärischem Sprachgebrauch «ostwärts» heißen mußte.)
    Diese Entfernungen wirkten etwas ernüchternd, sogar Apelt wurde kleinlaut. Alle atmeten auf, als Dr. Scholz in der nächsten Stunde versicherte, die Entscheidung des Führers sei die einzig richtige. «Lieber zehnmal gegen Rußland, als einmal mit Rußland.» Die Russen - er kannte sie aus dem ersten Weltkrieg - wären feige, hinterlistig, unzuverlässig, grausam wie alle Asiaten, dabei stur und gänzlich unfähig zur Leitung von Staat und Wirtschaft. «Natürlich wußte ich schon vorher, daß es losgeht! Mein Ältester hat mir erzählt, wohin seine Einheit verlegt wird... »
    Zwei Wochen später traf die Nachricht ein: der Leutnant Rudi Scholz war an der Ostfront gefallen. Erschüttert lasen Eltern, Lehrer und Schüler die Anzeige im Tageblatt. Er war der erste aus dem Kreise der Schülerschaft, der sein Leben verlor. Auch Dr. Vetter ging der Verlust nahe. Er hatte den großen Kalle noch in Sexta und Quinta unterrichtet.
    Es dauerte eine Weile, bis sich die Schule von dem Schock erholte. Erst unter dem Eindruck des schnellen Vormarschs wurde die Stimmung besser. Die Mehrzahl in der Klasse war überzeugt, daß der Krieg im Osten bis Weihnachten beendet sein würde.
    Dr. Vetter hatte eine andere Meinung. Er sagte einen langen; harten Kampf voraus. Der Ausgang war für ihn «zumindest zweifelhaft». Außerdem prophezeite er hohe Verluste. Keiner der Schüler glaubte ihm.

 
    2. Kapitel
    Spaten statt Gewehr
    An einem sonnigen Septembertag des Jahres 1941 strebte eine Schar junger Männer, Pappkoffer in der Hand, einer kleinen Siedlung zu. «Eckdorf» stand auf der Postkarte, die jedem als Einschreiben ins Haus geflattert war.
    Auf den Feldern wurden die letzten Hafergarben eingefahren; die Landarbeiter begannen mit Kartoffelroden. Im Vorbeigehen waren mehr polnische als deutsche Worte zu hören. Das Reiseziel der jungen Männer lag nur wenige Kilometer von der früheren polnischen Grenze entfernt. Jeder hatte mehrere Male umsteigen müssen, um sein Fahrtziel zu erreichen. Auf der kleinen Bahnstation wies ihnen ein freundlicher Eisenbahner den Weg in die Ortschaft.
    Eckdorf hatte einmal eine glanzvolle Rolle in der Landwirtschaft gespielt. Das Gut besaß um die Mitte des vorigen Jahrhunderts eine vorbildliche Schafzucht. Später ging es bergab. Der Gutshof und seine Vorwerke versanken in Mittelmäßigkeit, die Wirtschaft verfiel immer mehr. Auf den Feldern sahen die jungen Männer zwei uralte Dampfmaschinen, die einen Kippflug zwischen sich hin und her zogen und mit einer Dampfpfeife die Signale dazu gaben. Derartige Geräte waren auf anderen Gütern längst verschrottet; hier taten sie noch Dienst.
    Weite Flächen des alten Gutes, die nur geringwertigen Boden aufwiesen, lagen seit einem Jahrzehnt brach. Ein halbverfallenes Vorwerk, einst zur Bewirtschaftung dieser Außenschläge errichtet, stand leer. Der Reichsarbeitsdienst erwarb es billig und baute es mit geringen Geldmitteln zu einem häßlichen, uneinheitlichen Lager um.
    In der Unterhaltung der jungen Männer, die
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