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Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde

Titel: Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
Autoren: Manfred Luetz Eckart von Hirschhausen
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greift gesellschaftsweit um sich. Der Nobelpreisträger Watson, der mit Herrn Crick zusammen in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Doppelhelix entdeckte, schlug allen Ernstes vor, Menschen mit niedrigem Intelligenzquotienten höhere Steuern aufzuerlegen, wenn sie Kinder in die Welt setzten, denn damit würden sie die Gesellschaft ja unnötig belasten. Erst als er sehr viel später etwas über eine angeblich geringere Intelligenz der schwarzen Rasse verlauten ließ, schlug die political correctness zu. Denn »Rasse« sagt man aus den bekannten historischen Gründen nicht mehr. Man muss das anders umschreiben. Fremde kann man zum Beispiel sagen und »Überfremdung« ist inzwischen ein Ausdruck, der sich bei den Normalen von Rechts außen bis Links außen eingebürgert hat.

     
    Wahnsinnig Normale gibt es in allen Kulturen. Niemand würde in bestimmten Gegenden der Türkei einen Vater psychiatrisch behandeln, der seine Tochter zwangsverheiratet, sie tötet, wenn sie dem zuwiderhandelt, sich selber aber einige männliche Ausnahmen von der ehelichen Treue gestattet. In bestimmten Gegenden Siziliens soll es auch heute noch ganz normal sein, das zu tun, was die Mafia mit überzeugenden »Argumenten« nahelegt. Die Omertà, das Schweigegebot, bestimmt, was gesagt und vor allem, was nicht gesagt werden darf. Das kommt den wahnsinnig Normalen entgegen. Denn selbst reden sie eigentlich nicht so gern, diese Normalen, vor allem nicht öffentlich.
     
    Freilich können sie einem auch unheimlich werden, diese nichtssagenden Gestalten. Sie sagen zwar nichts, aber sie laufen überall mit. Zum Mythos des Nachkriegsfrankreich gehörte, dass fast alle Franzosen im Widerstand gegen Hitler und seinen Vasallen, den alten Marschall Pétain, gewesen seien. In Frankreich selbst gab es aber dann Anfang der 70er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts einen gut recherchierten Aufklärungsfilm, der die Verhältnisse leicht korrigierte. Da konnte man den Marschall Pétain sehen, wie er Anfang 1944 durch das von den Deutschen besetzte Paris fuhr. Die Straßen und Plätze waren schwarz von Menschen. »Ganz Paris jubelte dem alten Verdun-Kämpfer zu.« Zwei Millionen Menschen waren auf den Beinen. Es war ein Triumphzug! Vier Monate später: die gleichen Bilder. Doch nun war es sein Todfeind, der General de Gaulle, der nach der Befreiung durch Paris fuhr. Wieder waren zwei Millionen Menschen auf den Beinen. »Ganz Paris jubelte dem Befreier zu.« Und dann der Kommentar: »Paris hatte damals zwei Millionen Einwohner. Es müssen dieselben gewesen sein.«
     
    Auch in Deutschland waren die Normalen inhaltlich wahnsinnig flexibel. Werner Höfer, der journalistische Biedermann der Kultsendung »Frühschoppen«, der im Deutschen Fernsehen der Nachkriegszeit die ganz normale demokratische Sicht der ganz normalen neuen Demokratie zelebrierte, musste
schließlich kleinlaut gehen, weil er auch die braunen Verhältnisse mal für ganz normal gehalten hatte und ganz normal tiefbraun kommentiert hatte. George Orwell hat in seinem visionären Roman »1984« die bezwingende Wirkung von Massen dargestellt und wie schwierig es ist, sich einem solchen Massensog als Einzelner zu entziehen. Die wahnsinnig Normalen klatschen gern Beifall, wenn sie in Masse auftreten. Dann jubeln sie auch Hitler zu, Stalin, Mao Tse-tung und Kim il Sung. Und dann sind sie plötzlich nicht mehr grau, sondern braun oder rot oder sonstwie einfarbig. Dann stehen die wahnsinnig Normalen wie geklont in Reih und Glied zu Tausenden vor irgendeinem abscheulichen Repräsentanten des ganz normalen Wahnsinns und fühlen sich wohl. Denn dann können sie all diejenigen verachten, die sonst immer das Mittelmaß verachtet haben. Dann spüren sie, dass sie, die Mittelmäßigen, ganz viele sind und dass sie Macht haben über all die abweichenden bunten Vögel. Und dann geht ein erleichtertes Raunen durch die Masse der wahnsinnig Normalen, dann wird ihre Normalität militant.
     
    Normopathen nennt man mit leichter Ironie Menschen, die so wahnsinnig normal sind, dass es wehtut. Wenigstens der Umgebung. Doch schon solche Ironie kann gefährlich sein. Denn Humor, die Infragestellung seiner selbst, ist verbissenen Normopathen völlig fremd. Es fehlt ihnen die Leichtigkeit, vielleicht auch manchmal der Leichtsinn. Daher setzen sie sich mitunter in Comedyshows und lachen an den Stellen, an denen alle lachen. Man muss dann die Scherze nicht verstehen, fühlt sich aber in der Atmosphäre allgemeinen
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