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Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde

Titel: Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
Autoren: Manfred Luetz Eckart von Hirschhausen
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gemacht haben. Wer sich ernsthaft seine Wiedergeburt wünscht, den sollte man eigentlich auf seinen Geisteszustand hin untersuchen lassen. Doch leider muss aus psychiatrischer Sicht abgewunken werden. Man muss auch hier das Schlimmste vermuten: Behandlung völlig ausgeschlossen. Denn: alles normal!
     
    Wie in den absurden antiken Mysterienkulten geht es heute in esoterischen Zirkeln zu. Gegen den unglaublichen Unsinn, der da geglaubt wird, ist mancher Schizophrene im akuten Schub ein Hort reinster Rationalität. Denn das alles ist schließlich erheblich mühsamer, als wenn einer ab und zu schizophrenerweise denkt, die Nachbarin belästige ihn mit Laserstrahlen. Doch die Esoterikfans Frau Müller und Herrn Meier ficht all das nicht an. Sie sind sich sicher, dass sie nun endlich alles irgendwie ein Stück weit tiefer und eigentlicher sehen. Je komplizierter und schwerer verständlich das Ganze ist, desto gläubiger staunen Frau Müller und Herr Meier. Doch leider ist auch komplizierter Unsinn Unsinn. So befassen sich Esoteriker ausdauernd und mit hohem Zeitaufwand mit ganz viel betörendem, rätselhaftem und wortreichem - Quatsch. Man möchte das Ganze am liebsten für kompletten Schwachsinn erklären. Doch psychiatrisch liegt kein Schwachsinn vor. Psychiatrisch liegt die Intelligenz von Esoterik-Freaks satt im Normbereich. Der ganze esoterische Blödsinn ist kein Schwachsinn, er ist vielmehr ganz normaler Blödsinn. Über den man freilich nicht lachen darf. Denn Esoterik ist eine komplett humorfreie Zone.

2. Der blödsinnig Normale-Über spülende Frauen und röhrende Hirsche
    Unter Normen verstand man früher seit Jahrhunderten überkommene Maßstäbe. Ihre Macht war ihre unhinterfragte und verlässliche Gültigkeit. Auf diesem Fundament, so glaubte man, konnte sich die Gesellschaft in gesicherten Bahnen weiterentwickeln. Die griechische Tragödie lebt von ausweglos erscheinenden Konflikten zwischen den überkommenen Normen und der Willkür der Herrscher. Groß ragt die Gestalt der Antigone des Sophokles bis in unsere Zeit hinein, die das eigene Leben aufs Spiel setzt, um pflichtgemäß den Bruder zu bestatten. Ethos nannte man die Summe der geltenden Normen einer Gesellschaft. Schon die Griechen waren dabei allerdings mit der Tatsache konfrontiert, dass es zwar bei ihnen Pflicht der Kinder war, ihre Eltern, wenn sie gestorben waren, zu begraben. Sie wussten aber auch, dass es in Asien Gegenden gab, wo die Pietät von den Kindern verlangte - ihre toten Eltern aufzuessen. Was also normal ist, was gut ist, zeigt sich erst, wenn man mit dem Ethos einer bestimmten Gesellschaft vertraut ist. Über das Ethos muss man nicht nachdenken, man lebt in ihm, man vollzieht es. Kinder, die in Griechenland ihre Eltern bestatteten, taten das gewöhnlich nicht aufgrund einer theoretischen Überlegung, sondern weil sie wussten, dass sich das so gehörte. Und Kenntnis über die merkwürdigen Üblichkeiten im fernen Asien hatte man nur in einigen Gelehrtenstuben. Heute aber ist alles anders. Die Entdeckung, die Kolonialisierung und die Entkolonialisierung der Welt haben zum Phänomen der Globalisierung geführt. Wir Heutigen wissen plötzlich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort nicht mehr genau, was wir dort zu tun haben. Wir können uns ja in einem beliebigen Moment die Menschen aller Zeiten und aller Weltgegenden vergegenwärtigen - und ihre ganz unterschiedlichen Normen. Was gilt denn dann noch und warum? Gewiss, diese Einsicht kann uns lustvoll befreien von allen einengenden Normen, die uns als Orientierung mitgegeben wurden. Denn es gibt immer anderswo ein glückliches Leben auch ohne diese speziellen Normen, die uns nun mal zufällig geprägt haben.

     
    Der Preis für eine solche Befreiung ist freilich eine tiefe Verunsicherung. Wenn alle Normen nämlich gleich gültig sind, sind sie dann nicht auch gleichgültig? »Erlaubt ist, was gefällt« ist das Motto von Goethes Torquato Tasso. Doch, in den Alltag zurückgekehrt, funktioniert eine solche Befreiung nicht. Wenn nichts mehr unbefragt gilt, tritt Stress ein. Es ist der gleiche Stress, der die Pubertät so anstrengend macht. Weil man alles, wirklich alles, höchst persönlich und natürlich ganz anders als die bisherige Menschheit entscheiden will. Doch nach welchen Kriterien? An was soll man sich orientieren, wenn alles zur Disposition steht? Wenn im Grunde alles irgendwo auf der Welt irgendwann einmal normal war oder ist: Was ist dann überhaupt noch
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