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Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)

Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)

Titel: Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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war, dass ein so vornehmer Mann wie er eigentlich nicht einmal wissen sollte, dass es sie überhaupt gab. Er hatte mir etwas zeigen wollen, aber was? Tote Katzen und ersoffene Ratten?
    Chip scharrte erneut mit den Füßen, und ich erwartete, dass er nun losgehen würde, um mir den Weg über den Kanal zu zeigen, aber der Junge druckste nur weiter herum. Schließlich zog ich einen zweiten Sixpence hervor, ließ aber auch ihn sofort wieder in der geschlossenen Faust verschwinden, sodass das verlockende Geldstück nur ganz kurz zwischen meinen Fingern aufblitzte, und das verstand sogar dieser gierige Bengel und setzte sich missmutig in Bewegung.
    Wir gingen dichter an dem stinkenden Kanal entlang, als mir lieb war. Die Ränder des künstlich angelegten Flusses waren längst von ätzenden Dämpfen und der erbarmungslosen Witterung Belfasts angegriffen und zum Teil sogar zerstört worden. Unter jedem zweiten oder dritten Schritt lösten sich Staub und zerbröckelnder Stein, manchmal ganze Trümmerlawinen, die mit einem heftigen Platschen im Wasser verschwanden, woraufhin nur zu oft ein Schwall noch übleren Gestanks folgte. Ich würde meine Kleider wechseln müssen, dachte ich missmutig, sobald ich zu Hause war; möglicherweise baden.
    Falls ich wieder nach Hause kam. Mit einem Mal war ich gar nicht mehr so sicher, dass ich diesen Ort lebend verlassen würde.
    Ich blieb stehen, als wir eine schmale Brücke erreichten, die in einem Bogen über die zischende Brühe hinwegführte, der den meisten kühn vorgekommen wäre, mir aber schier die Haare zu Berge stehen ließ. Es war nicht so, dass ich der Brücke nicht traute. Sie sah baufällig aus, stand aber nun schon seit mindestens einem Menschenalter hier und würde sicher auch noch einige weitere Minuten und meinem Gewicht standhalten. Aber allein der Gedanke, diese widerwärtige Brühe zu überqueren, war mir zuwider.
    »Ich würde da nicht reingehen«, sagte Chip, fast als hätte er meine Gedanken gelesen. »Ist eine gefährliche Gegend. Hier ist schon so mancher einfach verschwunden.«
    Vielleicht nur, um vor dem Jungen nicht das Gesicht zu verlieren, betrat ich, ohne zu zögern, den geländerlosen Steg und legte ein forsches Tempo vor. Ich ertappte mich dabei, die ganze Zeit über die Luft anzuhalten, und auf der anderen Seite angekommen entfernte ich mich rasch ein paar Schritte und blieb dann wieder stehen, um das Gebäude einer weiteren Musterung zu unterziehen. Es gefiel mir immer weniger. »Hier hast du ihn getroffen?«, fragte ich misstrauisch.
    Statt zu antworten, starrte Chip meine geschlossene Faust an. Ich reichte ihm den Sixpence, der wie weggezaubert verschwand, und fügte warnend hinzu: »Und lass dir nicht einfallen, mich zu betrügen, Freundchen.«
    Der Junge schüttelte den Kopf, und diesmal war das Klimpern so laut, als hätte er eine ganze Schlüsselfabrik in der Jackentasche. »Auf der anderen Seite. Ich war auf der Straße unterwegs, um mich mit ein paar Kumpel zu treffen, da hat er mich angesprochen. Hat mit seinem schicken Wagen am Straßenrand gehalten und mir den Brief und einen Sixpence … ich meine den Brief gegeben und mir gesagt, dass ich einen Sixpence von Ihnen bekomme.«
    Ich hatte Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken. Eigentlich sollte ich zornig werden, doch irgendwie beeindruckte mich diese ganz bestimmte Art von Unverschämtheit auch beinahe. »Ich sehe keine Straße«, widersprach ich trotzdem.
    »Hinter dem Haus, auf der anderen Seite«, sagte Chip. »Wir können außen rumgehen, aber dann müssen wir das ganze Stück zurück. Und er ist auch gleich wieder abgefahren.«
    Ich überlegte. Alles in mir sträubte sich dagegen, diese Ruine zu betreten, aber die Vorstellung, die ganze Strecke neben und über den Kanal wieder zurückzugehen, behagte mir noch viel weniger. Außerdem wollte ich vor dem Jungen nicht als Feigling dastehen.
    »Dann zeig mir, wo du ihn getroffen hast.«
    »Bestimmt?« War da plötzlich etwas Lauerndes in Chips Augen? »Ist nicht ganz ungefährlich.«
    Ich paffte an meiner Zigarre und sah auf ihn hinab. Chip begriff, zog eine Grimasse und ging weiter.
    Das Gebäude war riesig und strahlte etwas ebenso Abweisendes wie fast Heimtückisches aus. Trotz der zahlreichen Fenster, in denen es schon seit Jahren kein Glas mehr gab, herrschte in seinem Inneren nahezu vollkommene Finsternis und ein Gestank, der im wortwörtlichen Sinne atemberaubend war. Ich sog so stark an meiner Zigarre, dass ich husten musste, doch diesmal
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