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Irisches Tagebuch

Irisches Tagebuch

Titel: Irisches Tagebuch
Autoren: Heinrich Böll
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zusammengestückelt, aber sie alle waren, wenn sie nicht heiter waren, mindestens gelassen; so traben sie oft meilenweit durch den Regen hin, durch den Regen zurück, mit Hurlingschlägern in der Hand, die Bücher durch einen Riemen zusammengehalten. Einhundertachtzig Kilometer lang fuhr das Auto durch irische Schulkinder hindurch, und obwohl es regnete, viele von ihnen barfuß waren, die meisten ärmlich gekleidet: fast alle schienen fröhlich zu sein.
    Ich empfand es als Blasphemie, als jemand in Deutschland mir einmal sagte: Die Straße gehört dem Motor. In Irland war ich oft versucht zu sagen: Die Straße gehört der Kuh; tatsächlich werden die Kühe so frei zur Weide wie die Kinder zur Schule geschickt: herdenweise nehmen sie die Straße ein, drehen sich hochmütig nach dem hupenden Auto um, und der Autofahrer hat hier Gelegenheit, Humor zu beweisen, Gelassenheit zu üben und seine Geschicklichkeit zu erproben: er fährt vorsichtig bis nahe an die Kuhherde heran, zwängt sich ängstlich in die gnädig gebildete Gasse, und sobald er die vorderste Kuh erreicht, sie überholt hat, darf er Gas geben und sich glücklich preisen, weil er einer Gefahr entronnen ist; und was ist erregender, was ein besseres Stimulans für des Menschen Dankbarkeit als eine eben überstandene Gefahr? So bleibt der irische Autofahrer immer ein Geschöpf, dem Dankbarkeit nicht fremd ist; er muß ständig um sein Leben, sein Recht und um sein Tempo kämpfen: gegen Schulkinder und Kühe; er würde niemals jenen snobistischen Slogan prägen können: Die Straße gehört dem Motor. Wem die Straße gehört, ist in Irland noch lange nicht entschieden — und wie schön sind diese Straßen: Mauern, Mauern, Bäume, Mauern und Hecken: die Steine der irischen Mauern würden ausreichen, den Turm von Babel zu erbauen, aber die irischen Ruinen beweisen, daß es zwecklos wäre, diesen Bau zu beginnen. Jedenfalls gehören diese schönen Straßen nicht dem Motor: sie gehören dem, der sie gerade beansprucht und der dem, der sie frei haben möchte, Gelegenheit gibt, seine Geschicklichkeit zu beweisen. Manche Straßen gehören dem Esel: Esel, die die Schule schwänzen, deren gibt es eine Menge in Irland: sie fressen an Hecken herum, betrachten melancholisch dem vorbeifahrenden Auto die Hinterseite zukehrend die Landschaft; jedenfalls gehört die Straße nicht dem Motor.
    Viel Gelassenheit, viel Heiterkeit bei Kühen, Eseln und Schulkindern begegnete uns zwischen Dublin und Limerick, dazu noch sich der Limericks zu erinnern, wer sollte sich da Limerick nähern, ohne an eine heitere Stadt zu denken? Waren die Straßen von heiteren Schulkindern, von selbstbewußten Kühen, von nachdenklichen Eseln beherrscht gewesen, plötzlich blieben sie leer: die Kinder schienen die Schule, die Kühe die Weide erreicht zu haben, und die Esel schienen zur Ordnung gerufen zu sein. Finstere Wolken kamen vom Atlantik her — und die Straßen von Limerick waren dunkel und leer: weiß waren nur die Milchflaschen vor den Türen, zu weiß fast, und die Möwen, die das Grau des Himmels zersplitterten, Wolken weißer und fetter Möwen, zersplittertes Weiß, das sich für Augenblicke zu einem größeren weißen Fleck zusammenschloß . Grün schimmerte das Moos an uralten Mauern aus dem achten, aus dem neunten und allen weiteren Jahrhunderten, und die Mauern aus dem zwanzigsten Jahrhundert waren kaum von denen aus dem achten zu unterscheiden: bemoost waren auch sie, Ruinen auch sie. In Fleischerläden schimmerten weißlich-rötliche Rinderhälften, und die nicht schulpflichtigen Limericker Kinder bewiesen dort ihre Originalität: sich an Schweinepfoten, an Ochsenschwänzen festhaltend, schaukelten sie zwischen den Fleischstücken hin und her: grinsende blasse Gesichter. Gute Einfälle haben die irischen Kinder; aber sind sie die einzigen Bewohner dieser Stadt?
    Wir ließen das Auto in der Nähe der Kathedrale stehen und schlenderten langsam durch die düsteren Straßen: grau wälzte sich der Shannon unter alten Brücken hindurch: zu groß, zu breit, zu wild dieser Fluß für die kleine düstere Stadt: Einsamkeit überfiel uns, Trauer, Verlassenheit zwischen Moos, alten Mauern und den vielen, so schmerzlich weißen Milchflaschen, die für längst Verstorbene bestimmt zu sein schienen: auch die Kinder, die in unbeleuchteten Fleischerläden an den Rinderhälften schaukelten, schienen Gespenster zu sein. Es gibt ein Mittel gegen die Einsamkeit, die einen plötzlich in einer fremden Stadt
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