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Irgendwann Holt Es Dich Ein

Irgendwann Holt Es Dich Ein

Titel: Irgendwann Holt Es Dich Ein
Autoren: Jane Hill
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dran. Wahrscheinlich handelte sie instinktiv, denn schließlich waren sie beide darauf gedrillt, bei Anrufen zu seltsamen Zeiten - wie jetzt, um halb sieben morgens - Wichtiges zu vermuten. Neil streckte die Hand aus, um ihr das Telefon abzunehmen, doch Kate sprach bereits. »Ja. Klar. Kein Problem.«
    Gleichzeitig löste sie sich aus Neils Umarmung, wobei sie peinlich berührt wirkte, verlegen, weil sie sich von ihm hatte halten lassen. Neil hörte aufmerksam zu und versuchte zu erraten, wer der Anrufer sein mochte. Immer noch zitterte Kate, und ihr Blick wirkte leer, obgleich ihre Stimme so klar, wach und konzentriert klang wie immer, wenn sie telefonierte. Sie stand da, das Telefon am Ohr, während Neil ihr bedeutete, sie möge ihm stumm mitteilen, mit wem sie redete. Doch das tat sie nicht. Stattdessen drehte sie sich zur Küchenwand um. Wie Neil es hasste, wenn sie das machte! Sie fingerte an dem Kalender herum, der dort hing. Und dann hörte Neil, wie Kate wieder sprach; gefasst und unaufgeregt begann sie, über das zu sprechen, was sie am vorigen Abend erlebt hatte: der wohlformulierte, klare Bericht einer Tragödie. Wie sie Hattie in der U-Bahn gesehen hatte - nein, sie nannte sie Harriet, sehr formell; wie der Zug im Tunnel stecken blieb und Harriet darob in Panik geriet. Gefasst erzählte sie, wie sie Harriet in Camden auf den Bahnsteig gefolgt war und sie stürzen sah, mit ansah, wie sie unter den einfahrenden Zug fiel. Neil beobachtete Kate, nach einem Anflug von Emotionen suchend, den er nicht entdecken konnte. Kate verstummte, hörte anscheinend dem Anrufer zu, dann sprach sie wieder: von ihrem Schock und ihrer Trauer, allerdings in einem Tonfall, der meilenweit entfernt von Schock und Trauer war.
    In dem Moment begriff er, was sie tat. Verdammt, sie gab ein Radiointerview! Sie redete mit ihrem Sender, war live auf Sendung, in den Nachrichten, und berichtete den Zuhörern vollkommen ruhig, was sie ihm nicht erzählen konnte - oder wollte.

DREI
     
    Kate wachte von den Klängen von »Five Live« auf, die aus Neils Arbeitszimmer kamen. Er war also noch hier, und sie fragte sich, wie es ihr damit ging. Wenn sie ehrlich war - und wahrscheinlich würde sie es ihm nicht sagen -, gab ihr seine Nähe eine gewisse Vertrautheit, das Gefühl, ein bisschen menschlicher zu sein. Sie stand auf und zog sich eine Jogginghose und ein T-Shirt an. Es war gerade vier Uhr nachmittags, wie sie feststellte, bevor sie sich das Haar zu einem losen Knoten hochband und die Vorhänge ein Stück aufzog. Draußen war es schon dunkel. Sie hatte den ganzen Freitag verloren.
    Im Bad neben dem Schlafzimmer betrachtete Kate sich im Spiegel. Ihr fiel auf, dass sie noch blasser war als sonst. Sie hatte Ringe unter den Augen, dunkel wie Hämatome. Nachdem sie sich Wasser ins Gesicht gespritzt hatte, tapste sie hinunter ins Souterrainzimmer, das sie sich als Fitnessraum eingerichtet hatte. Sie brauchte Zeit für sich, musste sich den Kopf freistrampeln und ihre Gedanken ordnen.
     
    Warum bin ich ihr nachgegangen? Wieso bin ich ihr gefolgt? Warum habe ich mich da hineinziehen lassen? Kates Gehirn pumpte die Fragen im Takt des Rudergeräts an die Oberfläche. Sie begann langsam, wurde mit jedem Schlag schneller und schneller, bis sie schließlich ihr Idealtempo gefunden hatte. Eine Weile wurde sie wieder langsamer, dann erneut schneller. Ihr Haar wehte im Luftzug der Maschine, und ihr ganzer Körper arbeitete im perfekten Rhythmus. Das heißt, alles außer ihrem Kopf, der nicht aufhören wollte, bohrende Fragen zu produzieren: Warum war sie Hattie nachgelaufen? Warum hatte sie versucht, ihr zu helfen? Was brachte sie dazu, sich wieder einmal einzumischen? Hatte sie sich nicht geschworen, es nie mehr zu tun?
    Kate hatte Hattie geliebt und sie auch gehasst, manchmal hatten beide Gefühle sich sogar in kurzer Folge abgewechselt oder gleichzeitig eingefunden. In der Schule hatte Hattie tatenlos zugesehen, sich bisweilen gar beteiligt, wenn die anderen Mädchen Kate das Leben zur Hölle machten. Hinterher jedoch genügten ein freundliches Lächeln, ein paar nette Worte, und schon glaubte Kate wieder, in Hattie eine Verbündete, ja, eine Freundin zu haben. Wenige Gesten hatten schon gereicht, dass Kate ihr dankbar war. »Erbärmlich dankbar«, sagte sie sich jetzt.
    Hattie war eine Drama-Queen gewesen, bevor dieser Ausdruck überhaupt erfunden wurde. Oder eine zutiefst verstörte, gequälte Seele. Da war Kate sich nie so ganz sicher gewesen. Sie
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