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Instrumentalität der Menschheit

Instrumentalität der Menschheit

Titel: Instrumentalität der Menschheit
Autoren: Cordwainer Smith
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sterblich wie die anderen Menschen und voller Angst gewesen.
    Doch er war der Liebhaber, der Kollege, der Ehemann von Anastasia Fjodorowa Cherpas geworden.
    Genossin Cherpas war seine Rivalin, seine Gegenspielerin und Konkurrentin gewesen in dem Kampf um wissenschaftliche Anerkennung unter den tollkühnen slawischen Pionieren der russischen Wissenschaft. Russische Wissenschaft konnte niemals die unmenschliche Perfektion deutscher Methoden, die rigide intellektuelle und moralische Disziplin deutscher Zusammenarbeit erreichen, aber die Russen konnten die Deutschen überflügeln und taten dies auch, indem sie ihrer kühnen, phantastischen Vorstellungskraft freien Lauf ließen. Rogow hatte 1939 die ersten Raketenwerfer entwickelt. Cherpas hatte die Arbeit vollendet, indem sie die besten dieser Raketen mit einer Funkfernsteuerung versah.
    1942 war von Rogow ein völlig neues System zur fotografischen Luftaufklärung erarbeitet worden. Genossin Cherpas hatte dieses Verfahren auf Farbfilme übertragen. Rogow, blondhaarig, blauäugig, hatte lächelnd seine Kritik an Genossin Cherpas’ Naivität und Unzuverlässigkeit bei den streng geheimen Treffen der russischen Wissenschaftler während der dunklen Winternächte des Jahres 1943 vorgetragen. Genossin Cherpas, deren buttergelbes Haar wie fließendes Wasser über ihre Schultern fiel, das ungeschminkte Gesicht vor Begeisterung, Intelligenz und Hingabe leuchtend, hatte ihm ihren Trotz entgegengesetzt, seinen theoretischen Kommunismus verlacht, seinen Stolz gekränkt und seine intellektuellen Hypothesen dort angegriffen, wo sie am verletzlichsten waren.
    1944 war ein Streit zwischen Rogow und Cherpas derart ausgeartet, daß es eine Reise wert gewesen wäre, um ihn mitzuerleben.
    1945 hatten sie geheiratet.
    Ihr Flirt blieb geheim, ihre Hochzeit war eine Überraschung, ihr Zusammenleben galt als Wunder unter den hochrangigen russischen Wissenschaftlern.
    Die Emigrantenpresse berichtete über den Ausspruch eines großen Wissenschaftlers, Peter Kapitza: »Rogow und Cherpas – das ist ein Team. Sie sind Kommunisten, gute Kommunisten; aber sie sind mehr als das! Sie sind Russen. Sie sind russisch genug, um die Welt zu besiegen. Schaut sie euch an. Sie sind die Zukunft, unsere russische Zukunft!« Vielleicht war diese Bemerkung übertrieben, aber sie verriet den ungeheuren Respekt, der Rogow und Cherpas von ihren Kollegen unter den sowjetischen Wissenschaftlern entgegengebracht wurde.
    Kurz nach ihrer Hochzeit geschahen seltsame Dinge mit ihnen.
    Rogow blieb glücklich. Cherpas strahlte.
    Dennoch begannen beide, vorsichtig mit ihren Worten zu sein, als ob sie Dinge gesehen hätten, die nicht durch die Sprache ausgedrückt werden konnten, als wären sie über Geheimnisse gestolpert, die zu bedeutend waren, um sie selbst den zuverlässigsten Agenten der sowjetischen Staatspolizei zuzuflüstern.
    1947 hatte Rogow ein Gespräch mit Stalin. Als sie Stalins Büro im Kreml verließen, kam der große Führer persönlich zur Tür, die Stirn nachdenklich gerunzelt, und nickte: »Da, da, da.«
    Selbst sein persönlicher Stab wußte nicht, warum Stalin »Ja, ja, ja« sagte, aber sie sahen die Anweisungen herausgehen mit den Vermerken NUR FÜR GEHEIMNISTRÄGER und ZUR KENNTNIS UND RÜCKGABE , NICHT ZUM VERBLEIB , die außerdem mit dem Stempel NUR FÜR AUTORISIERTES PERSONAL UND UNTER KEINEN UMSTÄNDEN VERVIELFÄLTIGEN versehen waren.
    In den öffentlichen und geheimen Sowjethaushalt dieses Jahres wurde durch direkte, persönliche Anweisung eines verschwiegenen Stalin ein Posten für ein »Projekt Teleskop« hinzugefügt. Stalin tolerierte keine Nachfrage, gab keinen Kommentar ab.
    Eine Stadt, die einen Namen besessen hatte, verlor ihn.
    Ein Wald, der frei zugänglich für Arbeiter und Bauern gewesen war, wurde zum militärischen Sperrgebiet.
    Im Zentralpostamt von Charkow wurde ein neues Postfach für die Stadt von Ya. Ch. eingerichtet.
    Rogow und Cherpas, Genossen und Liebende, beide Wissenschaftler und Russen, verschwanden aus dem täglichen Leben ihrer Kollegen. Auf keiner wissenschaftlichen Versammlung tauchten ihre Gesichter mehr auf. Nur selten bekam man sie noch zu sehen.
    Bei einem dieser seltenen Anlässe – gewöhnlich bei ihrer Hin- und Rückfahrt nach Moskau, wenn der jährliche Sowjet-Haushalt aufgestellt wurde – wirkten sie glücklich und heiter. Aber sie machten keine Scherze.
    Was die Außenwelt nicht wußte war, daß Stalin ihnen ein eigenes Projekt und ein Paradies verschafft
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