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Inspektor Jury lichtet den Nebel

Inspektor Jury lichtet den Nebel

Titel: Inspektor Jury lichtet den Nebel
Autoren: Martha Grimes
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Gebetskissen. Er streckte die Hand aus: «Ihr Skalpell, bitte.»
    Dr. Sanford war sichtlich entsetzt. Mit frostiger Stimme fragte er: «Sie haben doch nicht etwa vor, die Autopsie hier vor Ort vorzunehmen? Dafür ist doch der Pathologe –» Er verstummte, und man konnte sehen, daß ihm äußerst mulmig zumute war. Für Macalvie schien er Luft zu sein. Der Arzt jedoch ließ nicht locker. «Ich finde wirklich –»
    Macalvie hielt immer noch die Hand ausgestreckt. Jury dachte, daß Macalvie seine Gedanken offenbar nicht mit Subalternen – Polizistinnen, Ärzten, selbst Scotland Yard – diskutieren wollte.
    Dr. Sanford öffnete seine Tasche und holte ein Skalpell heraus.
    Macalvie machte einen kleinen Schnitt in einen der blauroten Flecken, etwas Blut tröpfelte heraus. Er gab das Skalpell zurück, zog dem Jungen das Unterhemd herunter und äußerte sich nicht weiter dazu.
    Sergeant Kendall fühlte sich aufgerufen, Macalvies Schweigen zu brechen und sagte: «Es will dem Pastor nicht in den Kopf, daß der Junge die ganze Zeit hier gelegen haben soll –»
    «Hat er ja auch nicht. Das da ist ein Bluterguß, keine Hypostase», sagte er zu Jury und ignorierte Dr. Sanford. Er wollte wohl wissen, ob wenigstens einer hier die Situation richtig einschätzte. Es war das zweite Mal, daß er das Wort an Jury richtete; Wiggins übersah er völlig. «Was meinen Sie?»
    «Sie dürften recht haben», sagte Jury. «Wahrscheinlich ist er nicht hier umgebracht worden, und mit Sicherheit hat er nicht zehn Stunden hier gelegen.»
    Macalvie starrte Jury weiter an, sagte aber nichts. Dann wandte er sich an den Mann von der Spurensicherung und deutete auf den silbernen Kelch, der sorgfältig eingestaubt und fotografiert worden war. «Sind Sie damit fertig?»
    «Sir.» Als er ihm den Kelch reichte, fehlte nicht viel, und er hätte die Hacken zusammengeknallt.
    Zwar war der Kelch bereits gründlich untersucht worden, aber Macalvie faßte ihn trotzdem mit einem Taschentuch an und hielt ihn hoch, als wollte er das Abendmahl austeilen.
    Betty Coogan, mit der Divisional Commander Macalvie wohl einmal ein Verhältnis gehabt hatte, wie Jury vermutete, fragte fassunglos: «Sie meinen also, er ist irgendwo anders ermordet und dann hierhergebracht worden? Aber warum? Das ergibt doch keinen Sinn.»
    «Ach nein?» sagte Macalvie in gewohnt schwatzhaftem Ton.
    Jury schüttelte den Kopf. «Bei so was riskiert ein Mörder doch Kopf und Kragen. Aber vielleicht war es ja Absicht. Der Kelch gehört nicht in die kleine Sakristei, jemand wollte ihn mit dem Blut des Jungen beschmieren. Ihn entweihen.»
    Macalvie vergaß sich beinahe und lächelte. «Okay, auf geht’s, nehmen wir uns mal den Vater des Jungen vor.»
    «Großvater. Daveys Vater ist tot», sagte Wiggins und schob sich ein Hustenbonbon in den Mund.
    «Okay, dann eben den Großvater.» Macalvie streckte die Hand aus wie vorher nach dem Skalpell. «Hätten Sie vielleicht noch einen? Ich gewöhne mir gerade das Rauchen ab.»
    «Prima», sagte Wiggins und ließ ein paar Fisherman’s Friends in Macalvies Hand fallen. «Sie werden es nicht bereuen.»
     
     
    D IE H AUSHÄLTERIN WEINTE , als sie die Tür öffnete, aber die Augen von Pastor Linley White waren so trocken wie seine Stimme.
    Wiggins wurde darauf angesetzt, soviel wie möglich aus der Haushälterin herauszuquetschen (und wenn dabei nur eine Tasse Tee herausspringen würde), und Jury und Macalvie nahmen gegenüber von Mr. White, vor seinem großen Schreibtisch, auf Binsenstühlen Platz. Zwei statt drei Polizisten im Zimmer, doch auch das Verhältnis zwei zu eins schien der Pastor unfair zu finden, obwohl doch Gott angeblich auf seiner Seite war. Wie auch immer, er konnte Jury und Macalvie rein gar nichts erzählen, was Licht in diese «traurige Angelegenheit» gebracht hätte – eine Formulierung, die ihm zu gefallen schien, denn immer wieder verwendete er sie, um die Ereignisse zu resümieren.
    «Sicher können Sie etwas Licht in die Sache bringen», sagte Macalvie freundlich. «Zum Beispiel, indem Sie uns erzählen, warum Sie Davey nicht mochten.»
    Der Pastor wehrte sich heftig gegen die Anschuldigung, zumal sie von jemandem kam, den er noch nicht einordnen konnte. «David hat über ein Jahr hier gelebt. Mein Sohn und seine Frau Mary» – die Art, wie er ihren Namen aussprach, ließ darauf schließen, daß er sie lieber unterschlagen hätte – «sind bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen, und kurz danach hat eine Tante David im
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