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Inspektor Jury küsst die Muse

Inspektor Jury küsst die Muse

Titel: Inspektor Jury küsst die Muse
Autoren: Martha Grimes
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vielleicht zuviel Sonne abbekommen hätte. «Was», fragte er, «ist ein Ishi?»
    «Ishikabi. Dieser Kleine da. Japaner, aber von mir höchstpersönlich umgebaut.»
    Harvey Schoenberg schien für alles und jeden einen Spitznamen zu haben, seinen Computer eingeschlossen.
     
    Den Sonnenstich durch einen Old Peculier gelindert, wartete Melrose – nicht ohne Bangigkeit – darauf, daß Harvey Schoenberg ihm alles erklärte. Der Ishi saß als Dritter im Bunde auf einem Stuhl neben Harvey. Der Deckel des Kastens war hochgeklappt und gab den Blick auf einen kleinen Monitor und eine Tastatur frei. Da waren Schlitze für die Disketten, und auf dem grünen Bildschirm pulsierte ein winziges weißes Quadrat. Anscheinend Ishis Herzschlag. Er war so wahnsinnig schnell, daß Melrose den Eindruck bekam, er und Harvey könnten ihre Ungeduld kaum noch bezähmen.
    « Wer tötete Marlowe? »sagte Harvey Schoenberg.
    «Nun, niemand weiß genau, was pas –»
    Harvey schüttelte so heftig den Kopf, daß seine Fliege auf und ab hüpfte und er sie wieder in Ordnung bringen mußte. «Nein, nein. Das ist der Titel meines Buches: Wer tötete Marlowe? »
    «Ach, tatsächlich?» Melrose räusperte sich.
    «Und nun –» Harvey stützte sich auf seine verschränkten Arme und beugte sich weit über den kleinen Tisch – «erzählen Sie mir alles, was Sie über Kit Marlowe wissen.»
    Melrose überlegte einen Augenblick. «Kit, das heißt, Christopher –» Melrose besaß nicht Harveys Begabung, sich jedem Fremden gleich anzubiedern – «Marlowe kam bei einer Wirtshausschlägerei ums Leben; soweit ich mich erinnere, ließ er sich in einem Pub in Southwark vollaufen –»
    «Deptford.»
    «Ja, richtig, Deptford – irgendwie entwickelte sich ein Streit, und Marlowe wurde erstochen. Ein unglücklicher Zufall. So ungefähr muß es gewesen sein», murmelte Melrose abschließend, als er das piratenhafte Lächeln auf Harvey Schoenbergs Gesicht sah.
    «Und weiter?»
    Melrose zuckte die Achseln. «Womit? Mehr weiß ich nicht.»
    «Ich meine, sein Leben. Die Stücke und so weiter.»
    «Ich hatte den Eindruck, der literarische Aspekt würde Sie nicht interessieren.»
    «Tut er auch nicht. Nicht wie diese Studierten, die alles mögliche mit seinem Werk anstellen, nur um zu beweisen, daß Burschen wie Bacon Shakespeares Stücke geschrieben haben. Wie Marlowe und Shakespeare zueinander standen, das ist was ganz anderes.»
    «Ich glaube nicht, daß Christopher Marlowe und Shakespeare sich so gut verstanden haben. Marlowes Ruf war schon ziemlich gefestigt, als Shakespeare auf der Bildfläche erschien. Er hatte bereits Tamburlaine und Doktor Faustus auf die Bühne gebracht, und man hielt ihn für den wohl besten Dramatiker Englands. Irgendwie war er auch in die Politik verwickelt. Marlowe war ein Agent, eine Art Spion …»
    Während Melrose seinen Vortrag fortsetzte, saß Harvey auf seinem Stuhl und nickte energisch, wie ein Lehrer, der darauf wartet, daß ein idiotischer Schüler seine auswendig gelernte Lektion herunterrasselt, damit er dazwischenfahren und ihn korrigieren kann.
    « Tamburlaine entstand, als Marlowe noch in Cambridge studierte, oder zumindest ein Teil davon. Ein erstaunliches Werk für einen so jungen Autor. Außerdem war da noch Doktor Faustus –»
    «‹War dies das Gesicht, das tausend Schiffe hat entsandt?›» sagte Harvey ein bißchen niedergeschlagen.
    «Richtig.» Melrose taute allmählich auf. «Wie finden Sie mich?»
    «Großartig. Sie wissen wirklich eine Menge. Sie sind wohl Professor oder so was Ähnliches?»
    «Ich halte tatsächlich ab und zu Vorlesungen an der Universität. Nichts Bedeutendes.» Melrose leerte sein Glas und goß sich den Rest der Flasche ein. Ihm war etwas schwindlig – entweder von dem Old Peculier, der es in sich hatte, oder von Harvey Schoenberg, der es noch mehr in sich hatte. Es ließ sich nicht genau unterscheiden.
    «Literatur, was?»
    «Französische Lyrik. Aber zurück zu Marlowe–»
    Sich noch weiter vorbeugend, sagte Harvey mit leiser, gedämpfter Stimme: «Der Earl von Southampton, was wissen Sie über ihn?»
    Wenn Melrose mit hochgeschlagenem Mantelkragen in einem dunklen Hauseingang gestanden hätte – der Eindruck, geheime Informationen weiterzugeben, wäre kaum stärker gewesen. «Southampton? War er nicht Shakespeares Sponsor? Ein Kunstmäzen?»
    «Richtig. Jung, reich, gutaussehend. Ein hübscher Knabe, dieser Southampton.»
    «Ich bitte Sie, Sie wollen doch nicht Shakespeares
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