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Inspektor Jury küsst die Muse

Inspektor Jury küsst die Muse

Titel: Inspektor Jury küsst die Muse
Autoren: Martha Grimes
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jedoch genausowenig unterdrücken wie den Haß, der sie vorhin bei dem Gedanken an Mama erfüllt hatte. Diese obskure Begierde war etwas, was sie nicht verstand, was ihr die Schamröte ins Gesicht trieb. Aber schließlich, so sagte sie sich, spielte es heutzutage keine Rolle, für wen man diese Gefühle entwickelte. Und die Scham gehörte dazu, das wußte sie. Ihr Gesicht glühte. Schuld daran war Mama. Hätte sie Gwendolyn nicht all diese Jahre zusammen mit dem Caddy in der Garage abgestellt …
     
    Die Stimme ihres Bekannten und sein kurzes Lachen unterbrachen ihre Gedanken. «Sorry, das muß an diesen Drinks liegen. Da drüben sind Toiletten …»
    Sie gingen zu dem weißgetünchten kleinen Häuschen, das tagsüber von zahlreichen Touristen frequentiert wurde, das aber nachts in genauso dunkler Stille lag wie der Weg, auf dem sie gekommen waren. Gwendolyns Erregung wuchs.
    «Sie haben doch nichts dagegen?»
    Gwendolyn kicherte. «Nein, natürlich nicht. Aber sehen Sie nur: Die Toiletten sind außer Betrieb.»
    Die Hand eines männlichen Begleiters von ihrem Knie schieben – näher war Gwendolyn Bracegirdle der Sache, die Shakespeare als den Akt der Dunkelheit bezeichnete, noch nie gekommen. Seit langem war ihr schmerzlich bewußt, daß ihr jeder Sex-Appeal fehlte.
    Es war ihr deshalb hoch anzurechnen, daß sie, als sie mit sanfter Gewalt in die öffentliche Toilette geschoben wurde, als sie Hände auf ihren Schultern und Atem in ihrem Nacken spürte und schließlich eine Befreiung empfand, als wären Brokatkleid, BH und Slip plötzlich von ihr abgefallen – daß sie diesen Angriff auf ihre Person also nicht abwehrte, sondern sich sagte: Zum Teufel, Mama! Gleich werde ich vergewaltigt.
    Und als sie dieses komische Kitzeln um die Brust herum spürte, kicherte sie beinahe und dachte: Der komische Kerl hat eine Feder …
    Der komische Kerl hatte eine Rasierklinge.

2
    Der von Weiden gesäumte und mit Licht überzogene Avon floß träge am rosa Backsteinbau des Theaters und an der Dreifaltigkeitskirche vorbei. Enten schliefen im Riedgras, und Schwäne schaukelten verträumt am Ufer.
    An einem solchen Morgen und an einem solchen Ort hätte es einen nicht überrascht, Rosalind zu sehen, wie sie an Bäume geheftete Gedichte las, oder Jacques, wie er am Flußufer vor sich hin brütete.
    Von weitem hätte man auch die Dame und den Herrn, die zwischen der alten Kirche und dem Theater am Fluß standen, für zwei Personen aus einem Shakespeare-Stück halten können, die von der Bühne herabgestiegen waren, um an diesem verzauberten Fluß Schwäne zu füttern.
    Es war ein arkadisches Idyll, eine Rêverie, ein Traum …
     
    Beinahe.
    «Du hast mein letztes Sahnetörtchen an die Schwäne verfüttert, Melrose», sagte die Dame, die nicht Rosalind war, und steckte die Nase in eine weiße Papiertüte.
    «Sie waren trocken», sagte der Herr, der zwar melancholisch, aber doch nicht Jacques war. Melrose Plant fragte sich, ob der Avon an dieser Stelle tief genug war, um sich darin zu ertränken. Aber warum der Aufwand? Noch weitere fünf Minuten, und er würde ohnehin vor Langeweile sterben.
    «Ich hatte sie mir für mein zweites Frühstück aufgehoben», murrte Lady Agatha Ardry.
    Melrose blickte auf die silbrige Fläche des Avon und seufzte. Eine richtige Schäferidylle war das, fehlten nur noch eine Schäferin oder Milchmagd. Eine Schäferin mit veilchenblauen Augen würde so wunderbar zu ihm passen. Seine Gedanken drifteten wie die Brotkrümel auf dem Wasser zurück nach Littlebourne und zu Polly Praed. Mit einem Milcheimer konnte er sich Polly allerdings nicht vorstellen.
    «Wir frühstücken alle zusammen im ‹ Cobweb Tea Room›. Und du wirst vielleicht auch von deinem hohen Roß steigen und dich zu uns gesellen», sagte sie vorwurfsvoll.
    «Nein, ich gedenke mein Frühstück hoch zu Roß einzunehmen.»
    «Immer mußt du dich aufspielen, Plant. Wirklich, es ist zu ärgerlich –»
    «Mich aufspielen – genau das tue ich nicht. Der Beweis: Ich werde heute morgen nicht im ‹Cobweb Tea Room› frühstücken.»
    «Du hast sie noch nicht einmal begrüßt.»
    «Eben.»
     
    Sie waren Agathas Verwandte aus Milwaukee, Wisconsin. Bislang hatte Melrose sie nur von weitem gesehen. Er war entschlossen, es dabei zu belassen, mochte sie ihm auch noch so sehr zusetzen. Er hatte sich im Falstaff einquartiert, einem klitzekleinen, aber reizenden Hotel an der Hauptstraße, und auf diese Weise Agatha und die amerikanische Verwandtschaft
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