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Inspector Jury bricht das Eis

Inspector Jury bricht das Eis

Titel: Inspector Jury bricht das Eis
Autoren: Martha Grimes
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«Vermutlich stehen wir unter einem solchen Zwang, glücklich zu sein, daß wir uns schuldig fühlen, wenn wir’s nicht können …» Sie tat die Sache mit einem Schulterzucken ab.
    «Ich stelle meistens einen Antrag auf Weihnachtsdienst und bringe das Fest so hinter mich. Die Dinge, die ich dabei oft zu sehen bekomme, machen einem klar, daß man nicht der einzige ist, der Weihnachten nur mit Hängen und Würgen übersteht.» Wie die alte Frau, klein und zerbrechlich wie ein Vogel, die sich in der Besenkammer erhängt hatte. Die Erinnerung blieb unausgesprochen. «Das ist ganz heilsam.» Wenn man solche Roßkuren mag. «Falls Sie zu Weihnachten noch nichts vorhaben, essen Sie doch mit uns zu Abend. Meine Cousine würde sich sehr freuen. Sie brauchte sich dann zur Abwechslung mal nicht nur den Kopf darüber zu zerbrechen, wo ihr versoffener Mann steckt und ob ihre Kinder als Punks enden und sich die Haare lila färben werden.»
    «Das ist furchtbar nett von Ihnen. Aber schließlich bin ich eine Fremde. Ich will mich Ihrer Familie nicht aufdrängen …»
    «Aber, aber, Sie wollen doch wohl nicht sentimental werden. Paßt das zu dem, was Sie mir eben erzählt haben?»
    Beide lachten.
    «Apropos Weihnachten – ich muß noch ein paar Geschenke einpacken. Für die Bonaventura-Schule. Sie nennt sich zwar Schule, ist aber in Wirklichkeit eher ein Waisenhaus.»
    «Sie tun also auch etwas für die Armen.»
    Helen wiegelte ab: «Oh, rechnen Sie mir das nicht allzu hoch an. Es ist nur ein Zeitvertreib.» Ihr Blick glitt über Jurys Schulter zum Fenster, wo Schneeflocken gegen die Scheiben wirbelten.
    Aber warum, grübelte Jury, hat sie es bloß so nötig, die Zeit totzuschlagen? Seine Frage, warum sie so unglücklich sei, war unbeantwortet geblieben. Widerstrebend stellte er sein Glas auf den Tisch und stand auf. «Meine Cousine wundert sich bestimmt schon, wo ich bleibe. Ich mach mich wohl besser auf den Weg.»
    Sie begleitete ihn zur Tür. Als sie sie öffnete, sah er hinaus in ein stürmisches Schneetreiben. Die Hecken raschelten im Wind, die jungen Bäume bogen sich unter ihrer feuchten Last. Der Schnee war wieder mit Regen vermischt.
    Helen zog die Ärmel ihrer Strickjacke über die Hände und schlang die Arme um ihre Taille.
    «Sie gehen besser wieder rein», sagte Jury und schlug den Kragen hoch. Der schneidende Wind fuhr ihm eisig durch Jacke und Pullover.
    Doch ungeachtet der Kälte, die ihr durch alle Glieder drang, blieb sie stehen und sagte: «Sie sind für dieses Wetter nicht richtig angezogen. Haben Sie denn keinen Mantel?»
    «Der liegt im Auto.»
    Sie begleitete ihn zum Gartentor und suchte mit den Blicken die Straße nach seinem Wagen ab. «Wo steht er denn?»
    Die Frage klang, als argwöhnte sie, daß er, leicht bekleidet, wie er war, den ganzen Weg nach Newcastle auf Schusters Rappen zurücklegen wollte. Er betrachtete lächelnd ihre Gestalt in der Dunkelheit: Die Beine dicht aneinandergepreßt stand sie da. Mit ihren dunklen Knöpfstiefeln und ihren Baumwollstrümpfen wirkte sie wie eine Frau auf einem Jugendstilplakat.
    «Der Wagen steht vor dem Pub. Und Sie werden naß.» Der Moment auf dem Friedhof fiel ihm wieder ein: «Woher kommen Ihre Schwindelanfälle?»
    Der Wind fuhr ihr durchs Haar. «Das ist wahrscheinlich nur eine Nebenwirkung des Medikaments, das ich nehmen muß. Eine kleine Herzgeschichte. Nichts Ernstes. Aber Sie sollten jetzt besser gehen.» Dann machte sie plötzlich ein bekümmertes Gesicht, strich eine Haarsträhne aus dem Mundwinkel und fragte: «Werden Sie wiederkommen?»
    Eine Böe hatte den Kragen ihrer Strickjacke aufgeschlagen, und er streckte die Hände aus, um ihn wieder zu schließen; dabei zog er sie gleichzeitig ein wenig näher zu sich heran. «Warum fragen Sie? Sie wissen doch, daß ich wiederkomme.»
    Einen Moment lang schauten sie sich in die Augen, dann lächelte sie und sagte: «Ja, ich denke, ich weiß es.» Durch die Dunkelheit rannte sie den Weg hinauf zum Haus und winkte ihm von der Tür aus zu, ehe sie sie hinter sich schloß.
    Jury blieb noch ein oder zwei Minuten auf dem Gehsteig stehen, die Schultern hochgezogen, die Hände in den Jackentaschen vergraben. Dieser verfluchte eisige Wind! Ein Licht wurde im Haus eingeschaltet; er sah sie am Fenster stehen. Das Fensterkreuz zerteilte ihr Gesicht in vier Segmente, die hinter den regennassen Scheiben verschwammen wie eine Traumerscheinung.
    Mit einem letzten Winken marschierte er in Richtung seines Wagens und merkte
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