Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Inspector Jury bricht das Eis

Inspector Jury bricht das Eis

Titel: Inspector Jury bricht das Eis
Autoren: Martha Grimes
Vom Netzwerk:
vor dem Anschlagbrett in der Kirche. Während er noch fieberhaft nach einem grabesdüsteren Einleitungssatz suchte, preßte sie die Hand auf ihre Stirn und ließ sie dann auf den Grabstein sinken, als suche sie Halt. Sie sah krank aus.
    «Ist Ihnen nicht gut?» Seine Hand lag flugs auf ihrem Arm.
    Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie Klarheit hineinbringen, und schenkte ihm ein dünnes, verlegenes Lächeln. «Nur ein kleiner Schwächeanfall. Wahrscheinlich kommt das vom vielen Bücken und zu schnellen Aufrichten. Danke.» Hastig steckte sie das Büchlein und den Stift in eine der großen aufgesetzten Taschen ihres Capes. Der Einband des Notizbuchs war aus Metall – golden, und bestimmt nicht billig. Der Stift war ebenfalls aus Gold, das Cape aus Kaschmirwolle. Nichts an ihr wirkte billig.
    «Sie schreiben doch nicht etwa ein Buch über Grabinschriften?» Wie banal, dachte er, irritiert von seiner eigenen Unbeholfenheit. Wäre sie die Hauptverdächtige in einem Mordfall gewesen, hätte er wohl eine bessere Figur gemacht.
    Aber seine Vermutung schien sie nicht zu verärgern. «Nein.» Sie lachte auf. «Ich forsche ein bißchen herum.»
    «Wonach? Ich weiß, es geht mich nichts an, aber – fühlen Sie sich auch wirklich ganz in Ordnung?»
    Sie schwankte ein wenig und griff sich wieder an die Stirn. «Ehrlich gesagt, ich weiß nicht recht. Mir ist wieder schwindlig.»
    «Sie sollten sich hinsetzen. Vielleicht auch einen Brandy oder so was trinken.» Er runzelte die Stirn. «Die Pubs haben allerdings geschlossen …»
    «Mein Cottage ist ganz in der Nähe, auf der anderen Seite des Dorfangers. Ich weiß nicht, woher diese Schwindelanfälle kommen. Vielleicht von dem Medikament … Na, als nächstes zeig ich Ihnen noch meine Blinddarmnarbe …»
    «Ich hätte nichts dagegen.» Er lächelte wieder. «Aber gestatten Sie mir wenigstens, daß ich Sie nach Hause begleite.»
    «Danke. Das wäre sehr freundlich von Ihnen.» Zusammen liefen sie durch das alte Washington, das Jury jetzt mit ganz anderen Augen sah: es erschien ihm nun als Prachtstück von einem Dorf, mit seinen zwei Pubs und der winzigen Bibliothek jenseits des Angers.
    «Ich habe noch etwas Whisky. Wenn Sie mir auf ein Glas Gesellschaft leisten wollen?»
    Wieder sagte Jury – und beglückwünschte sich dabei zu seiner atemberaubenden Originalität: «Ich hätte nichts dagegen.»
    Sie kamen an dem größeren der beiden Pubs vorbei, einem cremefarben gestrichenen Gebäude mit schwarzen Fensterläden und dem Namen «Washington Arms». Ihr Haus lag am Ende eines schmalen, heckengesäumten Wegs. Der kleine Eingangsvorbau lief ebenso wie das ziegelgedeckte Dach spitz zu; die zitronengelbe Haustür wirkte darin wie ein Flecken winterlichen Sonnenscheins.
    Drinnen war es jedoch gar nicht sonnig; die Fensterkreuze waren zu schmal und lagen zu hoch, um selbst an hochsommerlichen Tagen genügend Licht hereinzulassen. Sie schaltete eine Lampe an. Der bunte Glasschirm warf einen verschwommenen Regenbogen auf den Mahagonitisch.
    «Wir haben uns noch nicht vorgestellt», sagte sie lachend.
    Das stimmte allerdings; auf dem Weg hierher hatten sie sich unterhalten wie zwei alte Freunde und dabei vergessen, etwas so Beiläufiges wie ihre Namen zu erwähnen.
    «Ich heiße Helen Minton», sagte sie.
    «Richard Jury. Sie sind nicht von hier, nicht wahr? Ihr Akzent klingt eher nach London.»
    Sie lachte. «Sie müssen ein gutes Ohr haben. Ich kann höchstens den Unterschied zwischen Cornwall und Surrey und den Geordies hier oben raushören. Aber ich glaube kaum, daß ich einen Londoner Akzent zweifelsfrei erkennen würde.»
    «Ich bin aus London.»
    «Dann – aber bitte setzen Sie sich doch –, dann stelle ich Ihnen dieselbe Frage, die ich hier ständig zu hören kriege: Was hat Sie ausgerechnet hierher verschlagen? London erscheint einem hier so fern wie Timbuktu, und trotzdem kann man mit dem Schnellzug in drei Stunden dort sein.»
    «Ich bin unterwegs nach Newcastle.»
    Während sie ihm die Jacke abnahm – deren schweres Wildleder keineswegs einen ausreichenden Schutz gegen die hiesigen Stürme bot –, sah sie ihn nachdenklich an. «Sie scheinen nicht allzu glücklich darüber zu sein.»
    Jury lachte. «O Gott, merkt man mir das an?»
    «Hmm. Es ist zu schade, daß die Leute, wenn sie Newcastle hören, nur an Kohle denken. Die meisten Zechen sind längst stillgelegt. Die Stadt selbst ist eigentlich recht schön.» Sie legte sich die Jacke über den Arm, machte aber keine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher