Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Inspector Jury bricht das Eis

Inspector Jury bricht das Eis

Titel: Inspector Jury bricht das Eis
Autoren: Martha Grimes
Vom Netzwerk:
Abend essen», sagte sie und breitete die Arme aus, als entdeckte Sie in Jurys Vorschlag ungeheure Möglichkeiten.
    Er lachte. «Ich hatte gewiß nicht vor, Sie in der Küche schuften zu lassen. Gibt es hier keine Restaurants?»
    «Das Essen ist nicht so gut wie bei mir», erklärte sie schlicht und einfach. «Von dem ganzen Gerede übers Essen hab ich übrigens einen Bärenhunger bekommen. Bevor ich aus dem Haus ging, hab ich ein paar Sandwiches gemacht. Möchten Sie eins?»
    Jury hatte seit Tagen keinen Appetit mehr verspürt. Jetzt fühlte er sich plötzlich ausgehungert. Er fragte sich, ob ihnen wirklich bloß etwas zu essen fehlte, und lächelte. «Danke, gern. Soll ich nachschenken, während Sie die Sandwiches holen?»
    «O bitte, tun Sie das. Die Flaschen stehen dort drüben. Ich bin gleich wieder da.»
    Jury nahm die Gläser und sah sich im Zimmer um, in dem sich schon die Schatten der Dämmerung ausbreiteten, obwohl es erst vier Uhr nachmittags war. Es war ein hübsches Zimmer. Die Polstermöbel waren mit alten Rosendrucken bezogen, und im Kamin prasselte ein Feuer. Er bemerkte, daß es qualmte. Über dem Kaminsims hing ein gerahmter Druck von Old Hall. Die Tapete war in einem neun oder zehn Zentimeter breiten Streifen um das Bild herum eine Spur heller.
    Helen kam mit einem silbernen Tablett zurück, auf dem ein Teller mit Sandwiches und eine Unzahl von Beilagen standen: Gewürzgurken, Meerrettich, Senf, Pfeffersauce und dergleichen mehr.
    Er lachte: «Großer Gott! Sie scheinen Ihre Sandwiches ja üppig zu belegen.»
    «Ich weiß. Gräßlich, nicht? Ich habe eine furchtbare Schwäche für scharfes Essen. Da fällt mir ein, daß es im neuen Teil des Dorfes ein indisches Restaurant gibt, in das wir gehen könnten.» Sie strich Senf und Meerrettich auf ihr Roastbeef und garnierte es zum Abschluß mit einem Stück Gewürzgurke. Sie biß herzhaft hinein und sagte dann: «Ach, ich könnte Feuer speien. Möchten Sie mal probieren? Es ist frischer Meerrettich. Eine Bekannte von mir hat ihn zubereitet.» Sie hielt ein kleines Steinguttöpfchen hoch.
    «Nein, vielen Dank. Ich bin mit einem ganz gewöhnlichen Sandwich vollauf zufrieden.»
    Ein paar Minuten lang aßen und tranken sie in einvernehmlichem Schweigen, dann lehnte sie sich zurück in die Polster der Couch und zog ein Bein unter ihren Rock.
    «Wo arbeiten Sie?»
    «In der Victoria Street.» Er wünschte, die Frage nach seinem Beruf wäre nicht in diesem frühen Stadium gefallen; die Antwort stieß manche Leute vor den Kopf.
    «Was tun Sie dort?»
    «Polizeiarbeit. Ich bin ein Bulle.»
    Sie starrte ihn an und lachte. «Niemals!»
    «Doch», sagte er.
    Sie schüttelte immer noch ungläubig den Kopf: «Aber Sie sehen …»
    «… nicht wie einer aus? Oh, warten Sie erst mal ab, bis Sie mich in meinem abgetragenen blauen Anzug und meinem Regenmantel sehen.» Immer noch lächelnd legte sie den Kopf schräg, so daß ihr Gesicht und ihr Haar in den Schein der bunten Glaslampe eintauchten. «Ich beweise es Ihnen, indem ich Ihnen ein paar schlaue Fragen stelle. Sind Sie bereit?»
    Sie ging vergnügt auf das Spiel ein. «Schießen Sie los.»
    «Okay. Warum sind Sie wirklich hier? Warum sind Sie so unglücklich? Und warum haben Sie das Bild über dem Kaminsims abgenommen?»
    Bei der ersten Frage hatte sie abrupt den Blick abgewandt. Bei der dritten Frage schnellte er zu ihm zurück. «Wie …?»
    «Der Kamin qualmt. Man merkt es an der Tapete: sie ist um den Rahmen herum heller. Sie machen keine sonderlich gute Figur bei meinem Kreuzverhör. Sie wirken so schuldbewußt wie …» Jurys Lächeln verschwand. Er hatte gewiß nicht vorgehabt, sie aus der Fassung zu bringen. Im bunten Widerschein des Lampenlichts war ihr Gesicht jetzt tiefrot.
    «Ihnen entgeht wohl nichts.» Das war alles, was sie sagte.
    «Das ist mein Job. Und es ist meine Schwäche. Namen, Daten, Orte, Gesichter … von denen ich einige am liebsten vergessen würde …» Aber nicht Ihres , hätte er gerne hinzugefügt. «Es tut mir wirklich leid. Ich wollte nicht in Ihren Angelegenheiten herumschnüffeln.»
    «Nein, nein. Schon gut. Was das Unglücklichsein betrifft –» Ihr Lachen klang gezwungen. «Es liegt wohl daran, daß bald Weihnachten ist. Weihnachten deprimiert mich. Schrecklich, nicht? Aber ich glaube, es geht vielen Leuten so. Man fühlt sich tatsächlich schuldig, keine Familie zu haben, so als hätte man sie aus Nachlässigkeit verloren.» Sie wandte sich mehr an ihr Glas als an Jury.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher