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Inspector Jury bricht das Eis

Inspector Jury bricht das Eis

Titel: Inspector Jury bricht das Eis
Autoren: Martha Grimes
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Rosinenbrötchen strich. Er warf Jury einen pfiffigen Blick aus seinen blaßblauen Augen zu. «Es war ihr Herz, hab ich gehört. Aber Sie sind anderer Meinung?»
    «Ja, ich bin anderer Meinung.» Er betrachtete das verblaßte Veilchenmuster am Boden seiner Teetasse. Wie die Augen des Priesters und das Veilchenmuster schien hier alles im Dahinschwinden begriffen – die Cretonnerosen des Sessels, das braune Farnmuster der Vorhänge, das schlecht zu den Polsterbezügen paßte –, das Zimmer wirkte wie ein ungepflegter Garten, in dem die Pflanzen allmählich verwelkten. Und draußen kroch das Moos ungehindert an den Außenmauern des Hauses empor, um dann unter dem üppig wachsenden Efeu zu verschwinden. Etwas schien hier katzengleich zu schleichen, zu verharren, abzuwarten. Unwillkürlich mußte er an die Grabsteine denken, die Helen so eingehend untersucht hatte, als er sie zum erstenmal sah.
    Er erzählte Pater Rourke, wie er sie kennengelernt hatte. Dabei vermied er jedoch zu erwähnen, daß das erst gestern geschehen war, um seine Bedeutung als «Freund» nicht zu mindern.
    «Was hat sie auf dem Friedhof gesucht, Pater? Sie hat gesagt, sie interessiere sich für die Geschichte der Familie Washington.»
    «Tja, wissen Sie, das bezweifle ich.» Der Priester bestrich ein zweites Brötchen mit Butter und kaute nachdenklich daran herum. «Mir hat sie das auch erzählt. Aber ich habe ihr nicht geglaubt.»
    «Warum?»
    Er lehnte sich zurück und schien seinen Blick diesmal nach innen zu richten. Er gab keine direkte Antwort. «Sie kam nie zum Gottesdienst, obwohl sie oft in der Kirche war. Die alte Katze dort draußen … Nun, mit mir will sie anscheinend nichts zu tun haben, so wie sie sich immer schlangengleich davonschleicht. Aber Helen ist sie überallhin gefolgt. Das sagt viel über einen Menschen aus. Aber was kann ich Ihnen schon über menschliche Eigenheiten erzählen? Sie wissen mehr darüber, als ich jemals wissen werde.»
    Jury lächelte. «Das glaube ich kaum. Wonach hat sie denn Ihrer Meinung nach gesucht?»
    «Sehen, Sie, Grabsteine sind eigentlich nichts anderes als Dokumente. Und sie fragte, ob sie sich das Kirchenregister anschauen dürfe. Sie suchte nach jemandem, aber mit den Vorfahren von George Washington hatte das wohl nichts zu tun.» Pater Rourke schob sich den letzten Rest des Brötchens in den Mund. «Möchten Sie sich auf dem Friedhof umsehen? Vielleicht finden Sie dort etwas.»
    «Ja, das könnte nicht schaden.»
     
    Er war sicher, daß nichts dabei herauskommen würde, wie so oft bei Pflichtübungen dieser Art. Doch weil der Polizist in Jury sich der Routine nicht entziehen konnte, ging er mit dem Pater zu dem kleinen Grabstein mit den verwitterten Engeln. «Diese Inschrift hat sie notiert, Pater. Sie trug ein kleines Notizbuch bei sich.»
    In seinen klobigen Stiefeln – der Schnee lag hier sehr tief – kniete der Priester nieder und putzte seine Brillengläser. «‹Lyte, Robert›. Das Geburts- und Sterbedatum ist nicht mehr zu erkennen.» Er stand auf. «Soweit ich mich erinnere, taucht im Stammbaum der Washingtons der Name Lyte ein paarmal auf.» Er zuckte die Achseln. «Vielleicht hat sie doch die Wahrheit gesagt.»
    «War sie Katholikin?»
    «Nein. Sie sagte, sie sei nicht gläubig.» Er seufzte und blickte hinauf in den düsteren Abendhimmel. «Nicht mehr lange, dann ist es stockdunkel. Es heißt, wir kriegen noch mehr Schnee. Die Gegend um Durham ist schon fast eingeschneit, und das ist nur ein paar Meilen von hier.»
    «Hat sie nie einen Cousin erwähnt?»
    Der Priester schüttelte den Kopf. «Nein, niemanden. Aber ich kannte sie eigentlich kaum. Ich glaube, keiner hier kannte sie richtig. Sie war ja auch nur kurz in der Gegend. Nun gut, ich hoffe, Sie werden finden, wonach Sie suchen, Superintendent.» Er schwieg einen Moment und streckte dann die Hand aus. «Könnte ich für einen Augenblick meine Zeichnung wiederhaben?»
    «Natürlich.» Jury griff in die Tasche und reichte dem Priester das Blatt.
    Pater Rourke zog einen Bleistiftstummel hervor, radierte etwas aus und kritzelte dafür etwas anderes hin. Dann gab er Jury das Blatt zurück. «Ein H , Mr. Jury. An einer Ecke. Jetzt müssen Sie nur noch die drei anderen herausfinden. Reduzieren Sie das Rätsel auf seine Grundelemente.»
    Jury blickte zur Kirchturmspitze von St. Timothy empor. Sein Bedarf an Rätseln war gedeckt. «Ich glaube, Sie wären eine gute Verstärkung für uns, Pater.»
    Die blassen Augen des Priesters
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