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Inspector Barnaby 06 - Ein sicheres Versteck

Inspector Barnaby 06 - Ein sicheres Versteck

Titel: Inspector Barnaby 06 - Ein sicheres Versteck
Autoren: Caroline Graham
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dröhnte. Sie lief von dem Augenblick an, wo das Mädchen aufstand, bis elf Uhr nachts - eine Beschränkung, die Lionel ihr auferlegt hatte, als selbst seine Geduld langsam erschöpft war.
      Sie würde äußerst behutsam vorgehen müssen. Carlotta war angeblich sehr labil. Als sie zu ihnen kam, hatte Lionel seine Frau zur Vorsicht angehalten und ihr erklärt, dass selbst die geringste Kritik oder auch schon der Druck, sich trivialen kleinbürgerlichen Einschränkungen zu unterwerfen, Carlotta in eine tiefe Krise stürzen könnte. Bisher hatte Ann kaum Anzeichen dafür gesehen. Allmählich hatte sie sogar eher den Verdacht, dass genau das Gegenteil der Fall sein könnte.
      Sie hatte ein schwummriges Gefühl wie immer, wenn es darum ging, Aggressivität zu demonstrieren. Aggression zu empfinden war kein Problem. Doch wenn sie welche zeigen sollte, verschob sie das lieber auf morgen. Aber vielleicht - Ann ging ein paar Schritte zurück - war es ja gar nicht nötig. Sollte sie sich nicht lieber noch mal vergewissern, ob der Schmuck wirklich fehlte?
      Erleichtert über diesen Aufschub, zog Ann die oberste Schublade heraus, kippte den gesamten Inhalt aufs Bett und fing an, ihre Unterwäsche und Strumpfhosen sorgfältig durchzusehen. Keine Ohrringe. Dann untersuchte sie die beiden anderen Schubladen mit dem gleichen Ergebnis.
      Sie erinnerte sich genau daran, wann sie die Ohrringe zum letzten Mal getragen hatte. Es war am Todestag ihrer Mutter gewesen. Ann hatte frische Blumen zum Grab gebracht.
      Während ihr erwachsenes Ich Wasser in die steinerne Vase goss und die gelben Rosen arrangierte, deren Blüten wie die Flammen einer Kerze aussahen, hatte ihr sechsjähriges Ich, niedergedrückt vom Schmerz über den Verlust, sich sehnlichst gewünscht, dass ihre Mutter erscheinen würde, wenn auch nur für einen Augenblick. Gerade lange genug, um zu sehen, dass sie die Ohrringe trug. Dass sie nicht vergessen hatte. Dass sie nie vergessen würde.
      Die Musik wurde plötzlich noch lauter. Ob es an diesem unangenehmen Lärm lag, der in ihre schmerzlichen Überlegungen drang, oder daran, dass sie erneut davon überzeugt war, das Mädchen hätte eines ihrer kostbarsten Besitztümer gestohlen, jedenfalls fand Ann plötzlich den Mut zu handeln. Mit raschen Schritten durchquerte sie den Flur, lief stolpernd die Treppe zur Mansarde hinauf und hämmerte gegen die Tür.
      Die Lautstärke steigerte sich bis zum Unerträglichen. Die dröhnenden Bässe schlugen auf ihr Trommelfell ein, stießen hindurch und drangen mitten in ihren Kopf. Die Latten in der Tür und die Dielen unter ihren Füßen vibrierten. Außer sich vor Zorn - das ist mein Haus, mein Haus! - donnerte Ann mit den Fäusten gegen die Tür, bis die Knöchel aufgeschürft waren.
      Die Musik verstummte. Einige Sekunden später erschien Carlotta, wie üblich in schmuddeligen schwarzen Jeans und T-Shirt, breitbeinig in der Tür. An den Füßen trug sie verschlissene Turnschuhe. Um ihre langen ungepflegten Haare hatte sie ein lilanes gekraustes Haarband geschlungen. Sie hatte den Gesichtsausdruck aufgesetzt, den sie häufig zeigte, wenn sie beide allein waren. Ein Ausdruck amüsierter Verachtung. Dann duckte sie sich unter dem »Vorsicht Kopf«-Schild, überquerte die Schwelle und stellte sich Ann in den Weg.
      »Haben Sie ein Problem, Mrs. Lawrence?«
      »Ich fürchte ja.«
      Ann ging kühn einen Schritt vor, und von dieser plötzlichen Bewegung überrascht trat Carlotta zur Seite. Sie folgte Ann nicht ins Zimmer, das sehr unordentlich war und nach Zigarettenqualm stank.
      »Was denn?«
      »Ich kann die Ohrringe von meiner Mutter nicht finden.«
      »Und?«
      Ann holte tief Luft. »Ich hab mich gefragt, ob du ...«
      »Ob ich sie geklaut hab?«
      »Vielleicht ausgeliehen.«
      »Ich trag keinen Altweiberkram. Trotzdem vielen Dank.«
      »Vor ein paar Tagen waren sie noch in meinem Schmuckkästchen ...«
      »Wollen Sie behaupten, dass ich lüge?« Speichel spritzte, als die Worte über die dünnen dunkclroten Lippen kamen.
      »Natürlich nicht, Carlotta.«
      »Durchsuchen Sie doch die Bude. Na los.«
      Sie weiß, dass ich das nie tun würde, dachte Ann. Vor allem dann nicht, wenn sie danebensteht und zusieht. Dennoch dachte sie daran, Carlotta beim Wort zu nehmen, hätte jedoch die Demütigung nicht ertragen, wenn sie die Ohrringe nicht fände. Oder die furchtbare Szene, die folgen würde, wenn sie sie fand.
      Sie
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