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Insel zweier Welten: Roman (German Edition)

Insel zweier Welten: Roman (German Edition)

Titel: Insel zweier Welten: Roman (German Edition)
Autoren: Geraldine Brooks
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Opfer des Krieges. Nach so vielen blutigen Kämpfen gab es nur noch wenige, denen es etwas bedeutete, ob die Indianer lebten oder starben, ob sie nun bekehrt wurden oder ihr Leben als Heiden fristeten. Zunächst wurde das Gebäude baufällig. Im Jahre 1698 war von all den hochfliegenden Träumen und Hoffnungen nur noch ein Häuflein kaputter Steine und Staub übrig. Man nahm die Ziegel, wenn sie noch gut genug waren, und baute damit andere Gebäude. Als ich davon hörte, war ich nicht wütend, obwohl sich die Engländer doch wieder einmal etwas, das rechtmäßig den Indianern gehörte, angeeignet hatten. Das alles ist für mich jetzt eine alte Geschichte. Und das College hatte sich als der größte Dieb von allen erwiesen. Heute glaube ich, dass ein Fluch über dem Ganzen lag. Wie kann ich es anders sehen, wo doch jeder indianische Student, der in diesen vier Wänden weilte, eines viel zu frühen Todes starb. Es kamen noch andere nach Caleb und Joel, doch kaum hatten wir von diesen vielversprechenden jungen Männern gehört, erreichte uns auch schon wieder die schwarz geränderte Nachricht, dass sie tot waren. Ich weiß nur von einem, der vielleicht noch am Leben ist: John Wampus, der sich nur eine Weile am College aufhielt, dann jedoch in ein gesünderes Klima übersiedelte. Es heißt, er sei zur See gefahren. Ich hoffe, es ist ihm gut ergangen.
    Oft wandere ich in Gedanken zu jenem warmen Tag vor so langer Zeit zurück. Hätte ich mich damals von jenem Jungen abgewandt, dort am Ufer des Tümpels, hätte ich Speckle bestiegen und wäre zurück in meine eigene Welt geritten, hätte ihn in Frieden gelassen mit seinen Göttern und seinen Geistern, wäre das besser gewesen? Wäre er immer noch am Leben, mittlerweile ein alter Mann, Patriarch einer Familie und Führer seines Stammes? Vielleicht. Ich kann es nicht sagen.
    Er besucht mich in meinen Träumen. Es heißt, das sei eine Gabe, die seine Leute besitzen. Manchmal kommt er zu mir als der Junge, den ich gekannt habe; dann wieder lässt er mich sehen, wie er vielleicht in späteren Jahren gewesen wäre. In einem dieser Träume ist er ein Mann mittleren Alters, ein erfahrener Jurist, der hoch in der Gunst des Gouverneurs steht und dazu ernannt wird, Verhandlungen mit Metacom zu führen. Er erringt für sein Volk ein Quäntchen Gerechtigkeit, bringt so manchen vom Krieg und von der Zerstörung ab, die damit einherging. Es war ein guter Traum. Aus dem ich nur ungern erwachte.
    Ich trauere auch um Joel, der vielleicht als der gebildetste Mann der Insel hierher zurückgekehrt wäre, um zwischen seinem Volk und den skrupellosen Engländern zu stehen, die versuchten, die Indianer mit Schulden zu knebeln und in die Knechtschaft zu zwingen. Oft genug sieht man heutzutage ein Kind der Wampanoag, das in einem englischen Haushalt oder auf einem englischen Schiff dient, aufgrund einer obskuren Schuldverschreibung in die Indentur versklavt.
    All das sind meine Träume, ob wachend oder schlafend, und niemand kann wirklich sagen, was hätte sein können. Doch Träume und Erinnerungen sind für mich längst alles, was mich am Leben erhält. Wenn ich von Zeit zu Zeit Samuel mein Herz ausschütte und ihm diese Dinge erzähle, lächelt er mich geduldig an. Doch ich weiß, er denkt, ich sei eine weichherzige alte Frau geworden, die mit ihren Gedanken auf Wanderschaft geht, zwischen einer Vergangenheit, die unabänderlich ist, und einer unergründlichen Zukunft. Kürzlich habe ich ihm erzählt, dass ich von einer Zeit träume, in der die Wunden des Krieges verheilt sein werden und unsere Herzen nicht mehr so verhärtet sind, und dann werden vielleicht andere junge Indianer wie Caleb und Joel ihren Platz in Harvard einnehmen, in der Gesellschaft gebildeter Männer. Samuel schüttelte den Kopf und sagte, etwas Derartiges sehe er nicht einmal im nächsten halben Jahrhundert. Und dann berührte er mich am Gesicht und küsste mich. All diese lange Zeit hindurch haben wir uns geliebt, und wir lieben uns immer noch, auch wenn die Bande, die uns an diese Welt knüpfen, allmählich dünn und fadenscheinig und so leicht zerreißbar geworden sind wie der Faden einer Spinne.
    Bald wird er hier sein. Er kommt viele Male am Tag, um zu schauen, wie es mir geht, doch immer zu dieser Zeit, wenn das Licht dahinschwindet. Er bringt mir eine Dosis Laudanum – seine chirurgischen Fähigkeiten finden bei mir längst keine Anwendung mehr –, und dann sitzen wir beisammen, Hand in Hand, und schauen zu, wie das
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