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Ins Eis: Roman (German Edition)

Ins Eis: Roman (German Edition)

Titel: Ins Eis: Roman (German Edition)
Autoren: Karen Nieberg
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Lebensfeindliche mit Nichtachtung strafte. Eine Zeit lang hatte sich unter ihnen im leichten Dunst nur dunkles Meerblau erstreckt, während der Airbus der Scandinavian Airlines immer weiter gen Norden strebte. Dann waren sie plötzlich über sehr helles Grau geflogen. Wolken, hatte Kirsten im ersten Moment vermutet, bis ihr dämmerte, dass sie auf das arktische Packeis blickten. Unter ihnen trieben Schollen, an den Rändern dunkel umrahmt, losgerissen von der sich nach Norden hin verdichtenden Eisdecke. Aus zehn Kilometern Höhe war es schwer, ihre Größe zu schätzen. Waren sie so groß wie Fußballfelder? Etliche waren von Rissen durchzogen, andere bereits auseinandergebrochen, ihre geometrischen Bruchflächen drehten sich im Spiel der Strömungen voneinander fort. Ein Puzzle aus Packeis, mittendrin eine breite Wasserstraße, an den Rändern gezackt wie ein auseinandergerissener Reißverschluss. Eine Flugminute später tauchten die ersten Gipfel Spitzbergens unter der Tragfläche auf.
    Svalbard – Kühle Küste –, so lautete der norwegische Name der Inselgruppe. Ein von Schnee und Gletschern bedecktes Netz aus Bergen, nirgends unterbrochen von Straßen, Häusern oder den Lichtern der Zivilisation. Die menschlichen Siedlungen ließen sich an einer Hand abzählen; Longyearbyen, im Westen der Hauptinsel gelegen, war mit gut zweitausend Einwohnern mit Abstand die größte unter ihnen.
    Die Wolken hatten sich verdichtet, versperrten die Aussicht über den Archipel. Sie gingen tiefer, um die Wolkendecke zu durchstoßen und den Anflug auf den Flughafen zu beginnen. Der Pilot meldete minus acht Grad in Longyearbyen. Das klang gar nicht so schlimm, kaum kälter als Frankfurt, das Kirsten und Jonas am gestrigen Tag hinter sich gelassen hatten. Kurz darauf tauchte die Stadt auf. Sie näherten sich ihr in einem weiten Bogen über den Fjord. Die Landebahn des Flughafens sah aus wie ein in die Schneelandschaft gestempeltes dunkles Band, neben dem die Straße zur Stadt zur Bedeutungslosigkeit verkümmerte. Bloß einige wenige Autos fuhren sie entlang. Auf dem Bergplateau über dem Flughafen tarnten sich die weißen Kuppeln einer Satellitenanlage in dem ebenso hellen Schnee. Longyearbyen selbst schmiegte sich im Norden an einen Fjord, im Süden zogen sich die Gebäude zwischen steilen Bergen hinein ins Talinnere. Wohnhäuser in gedeckten satten Tönen, rot, gelblich und grün, gruppierten sich zu versetzten Reihen. Masten überragten die Gebäude; aus einem Schlot am Ortsausgang stieg Dampf in den Himmel. Fünfzig Kilometer Straßen gab es in und um Longyearbyen, hatte Kirsten gelesen. Jenseits davon endete jegliche Infrastruktur, erstreckten sich zahllose, einzig von den Lebensadern der Flüsse durchschnittene Täler, in die im Sommer nur die eigenen Füße führten.
    Dort, in einem dieser Täler, hatte Kristoffer sich niedergelegt, frierend und allein, um nie wieder aufzustehen.
    Ein ausgestopfter Eisbär überragte das Gepäckband, auf dem sich die ersten Taschen drehten; die Touristen zückten bereits ihre Kameras. Kirsten hatte nicht mit Fredrik verabredet, dass er sie und Jonas abholen würde, aber es überraschte sie keineswegs, ihn auf sie zukommen zu sehen. Er hatte sich den Mantel über den Arm geworfen und winkte mit der freien Hand. Kirsten lenkte Jonas’ Aufmerksamkeit von dem ausgestopften Eisbären auf seinen Großvater. Während der Junge auf Fredrik zurannte, hochgehoben und in die Luft geworfen wurde, folgte Kirsten mit den Jacken und dem Handgepäck.
    »Deine Nachricht, dass ihr eine Woche früher anreisen würdet, kam recht überraschend«, bemerkte Fredrik, während er sich zu Kirsten hinabbeugte, um ihr zwei Küsse auf die Wangen zu drücken. »Ich bin selbst erst seit vorgestern hier.«
    »Tut mir leid, dass wir dich so überfallen.«
    »Nicht doch, ich freue mich. Ihr seid die beste Unterhaltung, die ich mir wünschen könnte.«
    »Bist du denn alleine hier? Was ist mit deiner Frau?«
    »Elisabeth kommt nächste Woche zusammen mit den anderen.«
    Kirsten zeigte auf ihre Gepäckstücke auf dem Band: zwei große Taschen und einen Koffer. Schwungvoll hob Fredrik sie herunter. Nichts deutete darauf hin, dass dieser Mann in einer Woche fünfundsiebzig werden würde. Von Elisabeth wusste Kirsten, dass Fredrik jeden Morgen eine Stunde schwamm. Runde für Runde im hauseigenen zehn Meter langen Becken, je zwanzig Minuten Brust, Kraul und Rücken, jeden Tag ohne Ausnahme, selbst an Weihnachten. Genauso roch
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