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Ins Eis: Roman (German Edition)

Ins Eis: Roman (German Edition)

Titel: Ins Eis: Roman (German Edition)
Autoren: Karen Nieberg
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hatte Jonas und Kirsten damals am Telefon von dem Ausflug erzählt, und wie ihm bei einem Bild mit Selbstauslöser die Kamera beinahe in ein Schmelzwasserloch gefallen wäre. Er hatte den Rucksack als Auflage für die Kamera benutzt, den Selbstauslöser eingestellt und war dann einige Meter zurückgerannt, hatte sich umgedreht, nur um zu beobachten, wie die Kamera ins Rutschen kam, vom Rucksack fiel, weiterglitt über eine eisige Fläche immer näher auf ein Schmelzwasserloch zu. Lediglich ein gewagter Hechtsprung hatte die Kamera im letzten Moment retten können. Kristoffers lebhafte Beschreibung hatte Kirsten und Jonas zum Lachen gebracht; sie hatten ihn am Telefon so lange genervt, ihnen das derart schwer erkämpfte Selbstbildnis zu schicken, bis er versprochen hatte, es noch am selben Abend per E-Mail zu senden.
    Jonas’ Daumen mit den Keksbröseln unter dem Nagelrand klebte knapp neben dem lachenden Antlitz seines Vaters. Kirsten nahm ihm das Foto ab. Fast schon automatisch suchte sie ein Taschentuch, um die fettigen Fingerabdrücke fortzuwischen. Sie hätte es einschweißen lassen sollen, dachte sie, während sie und Jonas die Plätze tauschten. Kaum wieder angeschnallt, deutete der Junge mit dem Finger auf einen Fluggast, der sich gerade den Gang entlang in Richtung Toilette schob. Der Mann war groß und breit gebaut, seine Hände, die sich im Laufen von Sitzlehne zu Sitzlehne streckten, gewaltige, schwielige Pranken. Seine Gestalt schien das halbe Flugzeug auszufüllen. Als sein Arm versehentlich gegen den Kopf eines Sitzenden stieß, entschuldigte er sich nicht.
    »Schau mal, Mama, der Riese da, der kann gar nicht aufrecht gehen!« Kirsten drückte Jonas’ Hand nach unten und sagte, es sei unhöflich, mit dem Finger auf Fremde zu zeigen. Beleidigt wandte sich Jonas dem Fenster zu. Das Licht in der Kabine verdunkelte sich einen Moment lang, da sich der Hüne an ihrer Sitzreihe vorbeizwängte.
    »Arbeitet Ihr Mann in Longyear-Stadt?«, erkundigte sich Kirstens Nachbar, nachdem sie sich endlich auf ihrem neuen Sitzplatz eingerichtet hatte.
    Kirsten starrte einen Moment lang auf Jonas’ Rücken. Ihre Fingerspitzen zausten zärtlich seine Haare, bevor sie sich dem freundlichen Herrn zuwandte und leise erklärte: »Mein Mann ist vor ein paar Monaten bei einer Tour auf Spitzbergen gestorben.«
    Mit der Betroffenheit, die ihre Worte hervorriefen, war Kirsten mittlerweile bestens vertraut: große Augen, in die Höhe wachsende Brauen, zu einem O geformte Lippen, die unbewusste Verkleinerung der Körperhöhe durch sich senkende Schultern, die stets ähnlich lautenden Kondolenzbekundungen. Dazu der schnelle Blick zu dem armen Kind, dem vaterlosen Buben. Ihr fahriges Drehen am Ehering, was sie sonst nie tat, nur in diesen Momenten des automatisierten Mitleids. Das Drehen des Rings: ein Tick der jungen Witwe.
    »Darf ich fragen, was geschehen ist?«
    Kirsten steckte das Foto sorgfältig zurück in die Tasche. Ihr Daumen strich im Verborgenen sacht über Kristoffers Gesicht, wie er früher oft über seine Lippen gewandert war.
    »Man nennt es Hypothermie. Ein Absinken der Kerntemperatur des Körpers«, zitierte sie. »Unterkühlung auf Deutsch.«
    »Er ist verunglückt?«
    »Ja, im August, ein Tag, an dem das Wetter rasch wechselte. Ein Kälteeinbruch. Mein Mann ist von einer Wanderung nicht zurückgekehrt. Die Rettungsmannschaft hat ihn zu spät gefunden.«
    »Wie schrecklich!«, entfuhr es dem Herrn, flüsternd zwar, doch so teilnahmsvoll, dass Kirsten sich genötigt fühlte hinzuzufügen: »Man hat mir gesagt, es sei wie ein sanftes Einschlafen. Der Körper hört irgendwann auf zu frieren.« Aber vielleicht waren das auch alles Lügen, dachte sie im Stillen, und wieso endeten solche Gespräche eigentlich immer auf dieselbe Art? Als ob man dem Sterben unbedingt ein positives Ende abringen müsste, den Frieden im Tod. Wenn da wirklich Frieden wäre, wieso träumte sie dann nicht von sanft rieselnden Kristallen und einer Decke aus Schnee über einem im letzten heiteren Lächeln erstarrten Gesicht?
    Sie schienen die Turbulenzen hinter sich gelassen zu haben. Kirsten beugte sich zum Fenster, um eine Wolkenformation zu bewundern, die Jonas ihr unbedingt zeigen wollte: ein Gebirge mit einem Turm darauf und vor dem Turmeingang eine Schildkröte. Es dauerte eine Zeit lang, bis Kirsten sah, was er sah. Unterdessen gingen die Flugbegleiter durch die Reihen und begannen, die benutzten Plastikbecher und sonstigen Abfall
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