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Ins Eis: Roman (German Edition)

Ins Eis: Roman (German Edition)

Titel: Ins Eis: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Nieberg
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da der Tag seine Kapitulation einläutete. An Kirstens Hals, dort, wo der Helm endete und der Kragen begann, biss sich jedes Mal, wenn sie den Kopf zu weit reckte, der Fahrtwind in ihre Haut. Unter der ausgeliehenen äußeren Kleiderschicht trug sie lediglich Stadtkleidung, um den Hals einen kunstvoll gestrickten Wollschal, bei dem viel zu große Löcher den Tribut an Chic und Mode zollten.
    Schließlich konsultierte Tim doch noch sein GPS. Sie hielten auf einem gefrorenen Seitenfjord, der Motor des Schlittens dröhnte weit über die gefrorene Fläche, vibrierte unter Kirstens Hintern und wärmte die Spitzen ihrer Füße. Dreihundert Meter vor ihnen schimmerte es nachthimmelblau im Eis, eine walförmige offene Stelle, wo Fjordwasser an die Oberfläche trat, in dunkel glänzender Bewegung, als ob sich darunter ein gigantisches Tier im Schlaf herumwälzte.
    »Wir sind fast da«, verkündete Tim knapp. »Dort vorne, das Flusstal. Ich schätze, der Ausgang der Grube öffnet sich nicht auf den Fjord, sondern zum Fluss hin. Sobald wir im Tal sind, sollten wir die Mine sehen können.«
    Er irrte sich nicht. Fredriks Motorschlitten parkte ein paar Meter neben einer zur Seite gesackten Baracke in einer buchtförmigen Einkerbung des Tals. Die Tür des kastenförmigen Gebäudes war eingetreten, der Boden dahinter mit Altmetall und Holzresten übersät. Ein Fenster war unversehrt geblieben, verrammelt, die Läden gespickt mit nach außen zeigenden Nagelspitzen zur Abwehr neugieriger Eisbären. Rost hatte das Eisen ausgefranst. Kirsten kannte die Frontansicht des Gebäudes von dem Foto im Zeitungsartikel. Damals war die Baracke noch intakt gewesen.
    Fredriks Schneemobil stand fahrlässig abgestellt halb am Hang, ein Kufenende schwebte ein Stück in der Luft. Der Schlüssel steckte, der Helm baumelte über dem Lenker. Gegen den Sitz lehnte ein Gewehr; Tim schnalzte bei dessen Anblick missbilligend mit der Zunge. Jonas wollte es anfassen, traute sich mit einem Seitenblick auf seine Mutter dann allerdings doch nicht.
    »Gehört das Gewehr Opa?«, wollte er stattdessen wissen.
    »Er hat es sich ausgeliehen.« Kirsten reichte Tim mit ausgestrecktem Arm sein eigenes Gewehr zurück. In dieser Haltung hätte sie es höchstens ein paar Sekunden halten können, so schwer wog es.
    Über ihnen, knapp hundert steile Meter den Hang hinauf, klaffte ein schmaler rechteckiger Mund im Berg, schräg geteilt von einem Holzbalken, die obere Kante ein Stück nach unten gesackt. Ein Schuttberg verdeckte den Blick auf den unteren Teil des Eingangs. Es war hauptsächlich dem Schnee zu verdanken, dass der Grubeneingang vom Tal aus so gut sichtbar war, denn die Überzuckerung schuf einen Kontrast zur sich durch den Mineneingang ins Freie tastenden Finsternis des Berginneren. Sie machten sich an den Aufstieg.
    Von dem dreißig Jahre alten Weg, der einst zur Mine hinaufgeführt haben musste, war an vielen Stellen kaum etwas übrig geblieben, zu sehr hatten Erosion, Steinschlag und Erdrutsche dem Hang zugesetzt. Die Schneedecke war dünn, ausgeblasen vom Wind, und der Hang zu steil, als dass Schnee sich darauf hätte akkumulieren können, ohne vorher ins Tal abzurutschen. Darunter war der Boden steinig. Zwei Schritte hinauf bedeuteten einen zurück, immer wieder rutschten ihre Füße ab. Jonas krabbelte, die Hände am Boden, vor Tim den Hang hinauf. Dieser schob den Jungen vorwärts, wann immer er ein Stück zurückrutschte, aber der Kleine jammerte nicht. Kirsten kämpfte sich hinter den beiden her. Einmal ragte ein Stück verrosteter Stahl aus dem Boden, kupferbraun über dem dunkleren Braunschwarz des Berges. Nach fünfzig Höhenmetern begann eine Brise über ihre Stirn zu streichen, weiter oben segelten zwei Vögel und verschwanden jenseits der Bergkante in Richtung Fjord. In der dünnen Schneeauflage zeichneten sich Fredriks Fußabdrücke ab. Er war noch häufiger gerutscht als sie, einmal schien es, als ob er gar einen ganzen Meter zurückgerutscht wäre, bevor er hatte bremsen können.
    Bis sie oben ankamen, war Kirstens Unterwäsche schweißdurchtränkt. Die Haut an ihrem Gesicht spannte, die Lungen schmerzten, obwohl sie sich den Schal vor Nase und Mund gebunden hatte, um ihre Lungenbläschen vor der eisigen Luft zu schützen. Ihre Nase lief, doch der Mund war staubtrocken. Sie hatten weder Getränke noch Essen dabei, in Kirstens Tasche fanden sich bloß ein paar Süßigkeiten.
    Nach der Aufgabe der Grube hatte die Kohlekompanie den Eingang zur Mine

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