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Innerste Sphaere

Innerste Sphaere

Titel: Innerste Sphaere
Autoren: Sarah Fine
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Wie alle anderen hatte ich so getan, als würde ich die echte Nadia nicht sehen, weil es mir zu viel Angst machte. Vielleicht erinnerte sie mich zu sehr daran, wie traurig und verzweifelt ich selbst einmal gewesen war. Oder ich ertrug die Vorstellung nicht, dass sie so sein könnte. Und am Ende war genau das passiert, was ich am meisten fürchtete – sie hatte mich verlassen.
    Die Richterin unterbrach meine seelische Kernschmelze. »Zeig es ihr«, befahl sie.
    »Was soll ich ihr zeigen?«
    »Deinen Arm.«
    Ich fuchtelte mit dem Arm vor Nadias Nase herum. Plötzlich war es mir peinlich, dass sich unter meinem Ärmel ein Tattoo von ihrem Gesicht verbarg. Das war zu wenig, zu spät. Bemitleidenswert.
    Die Richterin lachte laut. »Herzchen, du bist wie eine Fernsehserie, die ich immerzu gucken möchte. Es ist noch nicht zu spät, aber gleich ist es zu spät, wenn du nicht auf mich hörst. Reiß dich zusammen und zeig deiner Freundin das Tattoo, bevor ich ärgerlich werde.«
    Sie wurde ernst und bedachte mich mit diesem unverwandten, alles durchschauenden Blick. O Schreck. Ich rollte meinen Ärmel hoch und streckte den Arm aus.
    »Jetzt sag Nadia, warum du hier bist, Lela.«
    Immer noch wütend – auf sie, auf mich – schwieg ich.
    »Herzchen, das ist deine Chance. Vertrau mir. Vertue nicht die Gelegenheit, die ich dir gebe.«
    Der warnende Unterton entging mir nicht und ich schluckte schwer. Nadia schaute unentwegt auf meinen Arm. Na schön, jetzt oder nie. Vielleicht konnte ich ja wiedergutmachen, dass ich sie so oft im Stich gelassen hatte. »Kann sein, dass ich leben wollte, aber wirklich gelebt habe ich nicht. Du hast mich gerettet, als ich nicht einmal glaubte, dass ich das brauche. Du hast mir eine Zukunft gezeigt, von der ich nie gedacht hätte, dass ich sie habe. Das war echt.«
    Nadia zuckte zusammen, aber dann schaute sie mich an, also sprach ich weiter. »Ich wäre nicht mit dir in dieser verrückten Stadt, wenn du nicht all das für mich getan hättest. Ich bin hergekommen, weil du mir so viel bedeutest. Weil ich dich liebe – und nie gemeint habe, du wärst perfekt. Siehst du das Gesicht auf meinem Arm? Endlich hab ich dein wahres Ich erkannt, und rate mal? Genau das liebe ich. Dein wahres Ich ist der Mensch, für den ich hergekommen bin. Weißt du was – es tut mir leid, dass ich dich nicht an mich rangelassen habe und Angst davor hatte zu sehen, was eigentlich vor sich ging. Verzeih mir, dass ich weggelaufen bin. Vielleicht wären wir nicht hier, wenn ich dir zugehört, wenn ich dich herausgefordert hätte. Verzeih mir, dass ich das vermasselt habe – aber ich liebe dich. Und ich wünsche mir so sehr, ich hätte dir das gesagt, als du noch am Leben warst.«
    Nadia schaute immer noch auf meinen Arm. In ihren Augen schimmerte ein Funke, als wäre etwas von dem, was ich gesagt hatte, angekommen. Aber es war nur ein Funke. Keine große Enthüllung, keine leuchtende Erkenntnis.
    Hilflos sah ich die Richterin an. »Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll.«
    »Es mag jetzt nicht so scheinen, aber das war genug. Es ist ein Anfang.« Die Richterin wandte sich Nadia zu, streckte die Hand aus und stupste mit ihren langen, purpurroten Fingernägeln Nadias Wange. »Nadia. Du leidest solche Schmerzen. Schau mich an. Möchtest du dich besser fühlen?«
    Sag ja. Sag ja.
Aber Nadia war sich anscheinend nicht sicher. Das war vollkommen irre.
    Und dann, ganz plötzlich, dämmerte es mir.
    Malachi hatte gesagt, dass für manche Menschen die Krankheit leichter zu ertragen ist als die Heilung. Nadia fiel es tatsächlich so schwer zu glauben, sie sei es wert, geliebt zu werden, dass sie es vorzog, unglücklich und allein zu sein.
    Sie tat mir leid. Am liebsten hätte ich geweint. Und mir wurde klar, dass die Richterin das für mich getan hatte, nicht für Nadia. Ich konnte für sie nichts in Ordnung bringen – nicht einmal annähernd. Nadia musste einiges herausfinden und das konnte ich ihr nicht abnehmen. Ich konnte ihr höchstens zeigen, was ich für sie empfand, wie viel sie mir bedeutete. Die Richterin hatte mir nur die Chance gegeben, Nadia zuzuhören und meine eigenen Gefühle ehrlich auszusprechen. Das war ihr Geschenk. Die Richterin brauchte mich nicht, um Nadia zu überzeugen, dass sie liebenswert war. Ich war mir ziemlich sicher, dass die Richterin meine Hilfe überhaupt nicht benötigte.
    Jetzt verstand ich meine Freundin und konnte ihr verzeihen, dass sie mich verlassen hatte. Darin bestand das
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