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In Vino Veritas

In Vino Veritas

Titel: In Vino Veritas
Autoren: Carsten Henn
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unter null ist, dürfte das dauern.«
    Julius kam die rettende Idee. Er hatte doch … irgendwo
mussten … sie waren doch immer … ja! In seiner ledernen Kameratasche
fand er zwei in Alufolie eingepackte Kugeln. Die Notfallpralinen! Wenn nichts
mehr ging, half Schokolade. Je süßer, desto schneller wirkten sie, je cremiger,
desto erquickender. Er rollte einen dunklen Trüffel mit klammen Fingern aus und
steckte ihn sich hastig in den Mund. Es dauerte etwas, bis die Praline die
richtige Temperatur hatte und zu schmelzen begann. Sie kleidete angenehm nussig
den Mund aus, bis Julius die Gianduja-Füllung erreichte und zubiss. Wohligkeit
breitete sich in seinem unterkühlten Körper aus, trieb den Schock und die
Anspannung aus den kalten Gliedern.
    »Möchten Sie auch eine?«
    »Ich bleib lieber bei meinem Kaffee.«
    Julius zuckte mit den Schultern und verstaute die zweite Praline
wieder in der kleinen Tasche.
    »Fühlen Sie sich jetzt besser?«, fragte von Reuschenberg. Ihre
Lachfältchen waren zu sehen.
    »Das war genau, was ich gebraucht habe.«
    Sie hatten sich vor knapp einem Jahr kennen gelernt, als ein Mörder,
genannt die »Rote Bestie«, durchs Ahrtal wütete. Julius und die Kommissarin
hatten ihre Probleme miteinander gehabt, aber am Ende hatten sie sich
zusammengerauft. Vielleicht sogar ein wenig mehr. Und das war gut gewesen,
sonst wäre wahrscheinlich noch mehr Blut geflossen.
    »Legen Sie los. Das Band läuft.«
    Julius genoss die letzten Reste der schokoladigen Creme, bevor er
den Mund wieder zum Sprechen benutzte.
    »Ich hätte ahnen müssen, dass so was passiert. Der Tag fing schon
schlecht an.« Er schüttelte den dezent behaarten Kopf. »Als ich ins Wohnzimmer
kam, hab ich gesehen, dass der Anrufbeantworter blinkte. Vier Anrufe. Und was
war? Aufgelegt! Viermal. So was bringt mich zur Weißglut.«
    »Sie haben’s wirklich schwer. Erst viermal aufgelegt und dann ein
Mord.« Von Reuschenberg versteckte ihr Gesicht hinter dem Kaffeebecher, aber
Julius konnte erahnen, dass sie dahinter feixte. »Wie ging’s nach diesem
Schreck weiter? Bei der Führung?«
    »Dafür musste die Kamera eingepackt werden, die Einladung und der
Personalausweis. Ist schließlich ein streng gesicherter Wehrbereich. Fehlte nur
noch ein polizeiliches Führungszeugnis.«
    »Dafür gab’s bestimmt Gesichtskontrolle.« Von Reuschenberg schaute
ihn fordernd an.
    Julius war nicht zum Scherzen zumute. Das Geschehen im
Regierungsbunker war dem Koch und Besitzer des Renommier-Restaurants »Zur Alten
Eiche« auf den Magen geschlagen. Und der war eines seiner professionellsten
Körperteile.
    »Irgendwie lag eine merkwürdige Stimmung in der Luft. Es war, als
wenn alle versuchten, sich gegenseitig aus dem Weg zu gehen. Dabei sind sie
Vereinskameraden im Golfclub. Ich durfte ja nur mit, weil eine ehemalige
Auszubildende von mir im Vereinsrestaurant arbeitet. Als ich von dem Ausflug
hörte, wollte ich ihn mir natürlich nicht entgehen lassen. Eine der letzten
Führungen durch den Regierungsbunker, bevor er endgültig dicht gemacht wird!
Ich konnte ja nicht ahnen …«
    »Sie konnten ja nicht ahnen, dass Sie wieder zu einer schlechten
Angewohnheit zurückkehren …«
    Julius schaute sie verdutzt an. Ihr steter Atem kondensierte sofort,
und er nahm den bitteren Geruch von Kaffee deutlich wahr.
    »Ich meine Ihre schlechte Angewohnheit, Leichen zu entdecken.«
    Eine Angewohnheit, dachte Julius, auf die er liebend gern verzichtet
hätte. »Die dritte in meiner Sammlung.«
    »Hoffen wir, dass es dabei bleibt. Erzählen Sie weiter, mein Kaffee
ist nämlich gleich alle.«
    Julius sah durch das mit Eisblumen übersäte Fenster, wie der
Leichenbestatter einen schwarzen Plastiksack in den Kombi schob.
    »Alle hielten Abstand voneinander, als grassiere die Pest. Das wurde
körperlich spürbar, als wir die Anlage betraten. Denn die Gänge bieten nicht
viel Platz, um sich aus dem Weg zu gehen. Kaum einer redete mit dem anderen.
Das hatte den Vorteil, dass ich sogar ganz hinten alles hören konnte, was der
Tourführer sagte.«
    Und Julius erzählte. Von Reuschenberg ließ ihn reden. Julius wusste,
dass es nicht die Informationen waren, die sie von ihm hören wollte, aber er
fühlte sich von Wort zu Wort besser, während er die Geschichte des Bunkers
rekapitulierte. Er zog einen ordentlich gefalteten Zettel hervor, den der
Golfclub verteilt hatte, damit alle die rudimentären Informationen über das
Bauwerk kannten. Julius las ihn vor. Er klang wie
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