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In Vino Veritas

In Vino Veritas

Titel: In Vino Veritas
Autoren: Carsten Henn
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eine Todesanzeige.
     
    – Infoblatt –
    für den
Vereinsausflug am 7. Januar zur Dienststelle Marienthal (ehemaliger
Ausweichsitz der Verfassungsorgane des Bundes im Krisen- und Verteidigungsfalle
zur Wahrnehmung von deren Funktionsfähigkeit)
     
    Etwa
1910 begann man im Ahrtal mit dem Bau einer neuen Eisenbahnlinie. Diese sollte
den Weg nach Westen verkürzen, um im Kriegsfall möglichst schnell Truppen,
Gerät und Nachschub in Richtung Frankreich transportieren zu können. Für die
neue Bahnstrecke wurde auch mit dem Bau eines ca. drei km langen Tunnels
begonnen. Das Ende des Ersten Weltkrieges bedeutete aber auch für die neue
Bahnlinie das Ende. Im Zweiten Weltkrieg entsann man sich des Tunnels, um dort,
geschützt vor den alliierten Luftangriffen, V1- und V2-Raketen zu montieren.
Nach dem Beitritt zur NATO ergab sich dann Ende der 50er Jahre für die junge
Bundesrepublik die Notwendigkeit, ein Schutzbauwerk für die Regierung und die
übrigen Verfassungsorgane zu errichten. Man entschloss sich, dazu auf den
stillgelegten Eisenbahntunnel im Ahrtal zurückzugreifen, weil die bis zu
112 Meter mächtige Überdeckung durch Schiefergestein den besten Schutz vor
Angriffen aller Art gewährleistete, einschließlich möglicher Nuklearschläge.
Die Längenausdehnung und ihre Untergliederung in autarke Abschnitte machten die
Tunnelanlage zu einem Flächenziel, das nur schwierig anzugreifen war. Fast fünf
Jahrzehnte später, im Jahre 1997, fasste das Bundeskabinett den Beschluss, die
Anlage aufzugeben. Bis zur Schließungsentscheidung unterlag das Bauwerk
strengster Geheimhaltung.
    Julius sah wieder auf. Von Reuschenberg notierte etwas in
ihr burgunderrotes Notizbuch und nickte ihm dann zu. Julius versuchte sich zu
erinnern, versuchte wieder dort zu sein in dieser betonierten Monstrosität,
deren Eingang nur wenige Meter entfernt lag und aus dessen verschlungenem Magen
soeben eine Leiche hervorgeholt worden war.
    »Es war … ja, es war wie in einem dieser alten
James-Bond-Filme, wie in ›James Bond jagt Dr. No‹. Viel veraltete, museale
Technik in Topzustand. Man fühlte sich wirklich wie in einem Film.«
    Und Julius erinnerte sich an den merkwürdigen Film, in dem er gerade
mitgespielt hatte. Sie hatten sich einige der 936 Schlafzellen
angeschaut, waren durch ein paar der 897 Büros gegangen,
hatten je eine der fünf Großkantinen, der fünf Kommandozentralen und der fünf
Sanitätsbauwerke bewundert.
    »Am beeindruckendsten fand ich die Fahrradabstellhalle – wer
rechnet schon mitten im Bauch eines Bunkers damit?«
    Julius erzählte von der Druckerei, dem Frisörsalon und dem Raum für
ökumenische Gottesdienste. Er erzählte von der roten Präsidentencouch, auf der
im Übungsfall nur »Bundespräsidenten-Üb« gesessen hatten –
Bundeswehrjargon für die Doubles. Und er erzählte von den Türen.
    »Fünfundzwanzigtausend Türen, können Sie sich das vorstellen?«
    Julius erzählte nicht von der aseptischen Kühle, nicht von dem
Angstgefühl, das ihn überkommen hatte. Ein kleiner Vorgeschmack auf einen
Bunkerkoller, dachte er, den er hoffentlich niemals erleben würde. Längere Zeit
in diesen Betonschläuchen, umgeben von blanken Wänden und Rohren, nur fahles
künstliches Licht, und der Wahnsinn würde anklopfen. Die Luft war ihm mit einem
Mal schwer, wie mit Beton durchmischt vorgekommen. Als müsste sie dichter sein,
um all der Erde standzuhalten, die über ihr lag. Nein, er würde es nicht lange
in dieser unterirdischen Geisterstadt aushalten. Julius lief es kalt den Rücken
herunter, und das lag nicht daran, dass das Thermometer unter null anzeigte.
Von Reuschenberg musste all dies nicht wissen. Und sollte es auch nicht.
    »Es war schon ziemlich zum Ende der Führung, als mir auffiel«, er
hielt seine Kameratasche hoch, »dass ich etwas vergessen hatte. Der Tourführer
rief per Funk einen Kollegen, der kurz darauf auf einem Fahrrad bei der Gruppe
ankam. Wir sind zusammen durch die letzten Räume gegangen, in denen die Führung
stattgefunden hatte, um die Kameratasche zu suchen.«
    »Er kam auf einem Fahrrad?«
    »Wie wollen Sie sonst die Distanzen schnell überbrücken?«
    Von Reuschenberg straffte ihren Körper und setzte sich aufrecht.
Ihre Augen verrieten Aufmerksamkeit, die Pupillen wirkten fokussierter als
zuvor.
    »Aber es dauerte etwas, bis Sie Ihre Tasche wieder fanden …«
    »In den letzten vier Zimmern war sie nicht, dann kamen wir zu dem
Raum für ökumenische
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