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In einer Familie

In einer Familie

Titel: In einer Familie
Autoren: Heinrich Mann
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Nietzsche so anzog,
    fußte in einem zentralen Punkt auf einer Familien-
    theorie, die den konservativen Gedanken verfocht,
    daß die bourgeoise Familie, »la brave classe moy-
    enne«, das Fundament jeder gesunden Gesell-
    schaftsordnung, ja des Staates selbst sei (»Le Disci-
    ple«, 1889): »les familles font les pays, puis les races«
    (»Cosmopolis«, 1892). Heinrich Mann kannte
    Bourgets Romane und seine kritischen Schriften,
    und er wertete sie weidlich aus. Er kaufte sich »Cos-
    mopolis« zu sofortiger Lektüre bei Niederschrift
    310
    von »In einer Familie« und ließ sich durch das Werk
    des katholischen Monarchisten und Mitbegründers
    der »Action française« den Kern- und Absichtssatz
    seines Erstlings beglaubigen, daß nach allen Kon-
    flikten sein Held am Ende in der Ehe wiedergefun-
    den habe: »Das echte, stetig geordnete, einträchtige
    und in seinem unscheinbaren Frieden so inhaltsrei-
    che Leben in einer Familie.«
    Der schwächliche Held – sein Typ war schon ein-
    mal in der autobiographischen Novelle »Haltlos«
    (1890) dargestellt worden – kann nur in diesem
    »Frieden« der »Hafenruhe« überleben. Im wirk-
    lichen Leben würde er untergehen. Denn er leidet an
    der »Krankheit des Willens«; er ist so morbide, so
    decadent, daß er zu Handlungen ebenso unfähig ist
    wie an »Überzeugungen« festzuhalten. Er ist das
    männliche Pendant zu der nervösen Dora. Er ist »un
    épicurien intellectuel et raffiné«. »Le bien et le mal,
    la beauté et la laideur, les vices et les vertus lui parais-
    sent des objets de simple curiosité … Pour lui, rien
    n’est vrai, rien n’est faux.« (»Le Disciple«) Seine Zeit
    und seine Entwicklung haben Wellkamp dahin ge-
    bracht, »daß er Wahrheit und Irrtum kaum noch als
    Gegensätze betrachtet, und sich damit bescheidet,
    Alles gelten zu lassen«, wie seine Verlobte, die
    starke, in ihren Anschauungen gefestigte Anna, be-
    dauernd bemerkt. Das Fachwort der Epoche für
    diese Disposition des »moins capable de vouloir« ist
    Dilettantismus. – Als Goethe und Schiller sich über
    311
    diesen Begriff verständigten, hatte er – in Überset-
    zung des italienischen »dilettare«, sich ergötzen –
    noch den Sinn von »Liebhaberei«; bei Bourget und
    seinen Zeitgenossen ein gutes Jahrhundert später
    überwiegt der Gehalt des Halbwissens und auch des
    Pathologischen. – Heinrich Mann hat von Bourget
    nicht nur dessen Soziologie übernommen, sondern
    mehr noch dessen Psychologie in seiner Kritik der
    Décadence.
    Damit ist zugleich der Erzählstil bezeichnet: die
    überbordende Reflexion seelischer Vorgänge, das
    Absehen von äußerer Handlung. Wenn Heinrich
    Mann seinem Lübecker Schulfreund Ludwig Ewers
    von seiner Arbeit am Roman berichtet, sind von An-
    fang bis zum Ende stets die »Ausführung der psy-
    chologischen Verknüpfungen« (30. 9. 1891) und à la
    Bourget der »roman d’analyse pure«, in dem das
    »allgemeine Leben … nur als Schattenspiel« vorbei-
    zöge (1. 12. 1894), als literarische Ziele benannt.
    Aber Bourget hat dem jungen Heinrich Mann
    noch viel mehr vermittelt als eine Gesellschaftslehre
    und eine Psychologie. Er hat ihn auf Goethes »Wahl-
    verwandtschaften« als die Urform des psychologi-
    schen Romans im 19. Jahrhundert hingewiesen. Da-
    mit war die Figurenkonstellation von zwei Paaren,
    deren Liebesbeziehungen sich verschränken und
    von denen das eine den doppelten Ehebruch begeht,
    vorgezeichnet, waren also Fabel und Thema abge-
    steckt. Wel kamp beruft sich denn auch ausdrücklich
    312
    an bezeichnender Stelle, als er vor seinem »Schick-
    sal« gewarnt wird, auf Goethes Roman als eines sei-
    ner »Lieblingsbücher«. Daß Heinrich Mann, indem
    er diesen Bezug herstellt, in seiner Tendenz zur völ-
    ligen Verinnerlichung des Psychologischen, die die
    Außenwelt nur noch als ein »Schattenspiel« zuläßt,
    die ungemeine Welthaltigkeit von Goethes Roman
    übersieht, sei nebenher angemerkt: Goethe stellt die
    Romantische Gesellschaft der Neuzeit, die ästheti-
    sierenden Nazarener und Präraffaeliten seiner Zeit
    präzise dar. Seine Personnagen kennen die Natur
    nur als Parklandschaft, allenfalls als »decorated
    farm«. Taten finden im Randbereich des Krieges
    statt. Es ist eine entmythologisierte Gesel schaft und
    als solche durchaus psychologisiert, so daß in ihr der
    Ehebruch nur mental und nicht körperlich vollzo-
    gen wird. Alles verbleibt im Bereich der Symbole.
    Ganz anders die großen Romane, in denen
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