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In die Nacht hinein: Roman (German Edition)

In die Nacht hinein: Roman (German Edition)

Titel: In die Nacht hinein: Roman (German Edition)
Autoren: Michael Cunningham
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Gewissheit. Sie stammen geradewegs von Henry James und George Eliot, nicht wahr? Genau genommen sind wir aus dem gleichen Stoff gemacht wie ihre Heldinnen, wie Isabel Archer, wie Dorothea Brooke.
    Das Taxi erreicht die Fifth Avenue, biegt rechts ab. Von der Fifth Avenue aus wirkt der Park wieder wie eine schlummernde nächtliche Gefahr, wie ein wartendes, sich zusammenbrauendes Etwas zwischen den schwarzen Bäumen. Haben die Milliardäre, die in diesen Häusern wohnen, jemals dieses Gefühl? Wenn ihre Fahrer sie nachts nach Hause bringen, werfen sie dann jemals einen Blick über die Straße und glauben, vorerst, gerade noch, vor dem Wilden, das sie mit großer, gieriger Geduld von den Bäumen aus beobachtet, sicher zu sein?
    »Wann kommt Missy?«, fragt er.
    »Er hat gesagt, nächste Woche. Du weißt ja, wie er ist.«
    »Mm.«
    Peter weiß in der Tat, wie er ist. Er ist einer dieser pfiffigen, unsteten jungen Menschen, der nach gewissen Überlegungen beschließt, dass er Irgendetwas mit Kunst machen will, aber nicht an einen wirklichen Job denkt, es möglicherweise gar nicht kann; der sich anscheinend vorstellt, dass Jugend, Köpfchen und Bereitwilligkeit einen Beruf heraufbeschwören, dessen genaue Beschaffenheit sich mit der Zeit erweisen wird.
    Diese von Frauen dominierte Familie hat den armen Jungen kaputtgemacht, nicht wahr? Wer kann es überleben, so verzweifelt geliebt zu werden?
    Rebecca wendet sich zu ihm, hat die Arme noch verschränkt. »Kommt es dir nicht manchmal lächerlich vor?«
    »Was?«
    »Diese Partys und Dinners, all diese schrecklichen Leute.«
    »Sie sind nicht schrecklich.«
    »Ich weiß. Ich habe es nur satt, all die Fragen zu stellen. Die Hälfte dieser Leute weiß nicht einmal, was ich mache.«
    »Das stimmt nicht.«
    Na ja, vielleicht stimmt es ein bisschen. Blue Light , Rebeccas Kunst- und Kulturmagazin, ist bei solchen Leuten nicht der große Knaller, ich meine, es ist nicht das Artforum oder Art in America . Es geht um Kunst, klar, aber auch um Lyrik und Belletristik, und gelegentlich enthält es auch – Schrecken aller Schrecken – eine Modestrecke.
    Sie sagt: »Wenn es dir lieber ist, dass Missy nicht bei uns wohnt, suche ich eine andere Unterkunft für ihn.«
    Ach, es geht immer noch um Missy, nicht wahr? Den kleinen Bruder, die Liebe ihres Lebens.
    »Nein, es ist völlig okay. Ich habe ihn wie lange nicht mehr gesehen? Fünf Jahre? Sechs?«
    »Ganz recht. Du bist damals nach Kalifornien nicht mitgekommen.«
    Plötzlich ein schmerzliches und unverhofftes Schweigen. War sie wütend auf ihn, weil er nicht nach Kalifornien gekommen war? War er wütend auf sie, weil sie wütend war? Er kann sich nicht erinnern. Aber irgendetwas war schlecht in Bezug auf Kalifornien.Was?
    Sie beugt sich vor und küsst ihn liebevoll auf die Lippen.
    »Hey«, flüstert sie.
    Sie vergräbt ihr Gesicht an seinem Hals. Er schlingt einen Arm um sie.
    »Die Welt ist manchmal ermüdend, nicht wahr?«, sagt sie.
    Frieden geschlossen. Und dennoch. Rebecca kann sich an jedes noch so geringfügige Verbrechen von Peter erinnern und es ihm monatelang vorhalten, wenn ein Streit hitzig wird. Hat er heute Abend einen Verstoß begangen, irgendetwas, das er im Juni oder Juli zu hören bekommen wird?
    »M-hm«, sagt er.»Weißt du, ich glaube, wir können eindeutig sagen, dass es Elena ernst meint mit den Haaren und der Brille et cetera.«
    »Ich hab’s dir doch gesagt.«
    »Hast du nicht.«
    »Du erinnerst dich bloß nicht.«
    Das Taxi hält an der Ampel an der Sixty-fifth Street.
    Hier sind sie: ein Paar mittleren Alters im Fond eines Taxis (diesmal heißt der Fahrer Abel Hibbert, ist jung und nervös, schweigsam, geladen). Hier sind Peter und seine Frau, seit einundzwanzig (fast zweiundzwanzig) Jahren verheiratet, mittlerweile freundschaftlich verbunden, zu Frotzeleien aufgelegt, haben nicht mehr oft Sex, kommen aber auch nicht ohne Sex aus, wie andere lange verheiratete Paare, die er beim Namen nennen könnte, und ja, in einem gewissen Alter kann man sich größere Errungenschaften vorstellen, eine tiefere und unerschütterlichere Zufriedenheit, aber was du für dich geschaffen hast, ist nicht schlecht, überhaupt nicht schlecht. Peter Harris, ein feindseliges Kind, ein furchtbarer Jugendlicher, Gewinner diverser zweiter Preise, ist an diesem gewöhnlichen Augenblick angelangt, hat Beziehungen, ist beschäftigt, wird geliebt, spürt den warmen Atem seiner Frau am Hals, fährt nach Hause.
    Come sail away, come sail
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