Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In der Zone

In der Zone

Titel: In der Zone
Autoren: T. C. Boyle
Vom Netzwerk:
in Maschas Ehebett – nicht wie ein Paar, sondern wie Geschwister. Es war praktischer, denn wo sonst hätte er schlafen sollen? In dem schmutzigen Bett in seinem eigenen Haus, einen Kilometer entfernt? Am Morgen aßen sie Suppe mit Reis, und dann ging er hinaus und die Straße hinunter, während sie alle möglichen Arbeiten erledigte und unter anderem mit Hilfe der Reste in einer Flasche Bleiche den Schimmel von den Wänden schrubbte. Es war nach Mittag – die Sonne stand hoch am Himmel, der Gesang der Vögel war wie eine Symphonie, im Garten ästen Rehe, und das aus seinem Schlupfwinkel vertriebene Wiesel sonnte sich auf dem Holzstoß –, als Leonid zurückkehrte. Er brachte eine Schubkarre mit, in der Lebensmittel aus seinem eigenen Vorratsschrank, Bettlaken, eine Felldecke, seine Flinte, seine Angelrute und eine Rolle Draht zur Verfertigung von Schlingen lagen. Außerdem trabte ein Hund hinter ihm her, den sie noch nie gesehen hatte. Es war keiner von denen, die ihren Nachbarn gehört hatten – jedenfalls konnte sie sich nicht an ihn erinnern. Sie musterte ihn misstrauisch: Seine Rippen zeichneten sich ab, und er wedelte mit dem struppigen Schwanz, als er den Geruch der Suppe wahrnahm, der durch die offene Tür hinaustrieb. Er war mittelgroß, nicht groß genug, um einen ordentlichen Wachhund abzugeben, und sein Fell hatte, bis auf einen dunklen Fleck über dem einen Auge, die Farbe von Schmalz. »Wir können ihn nicht behalten«, sagte sie knapp. »Wir werden es auch ohne ihn schwer genug haben, über die Runden zu kommen.«
    »Zu spät«, erwiderte er mit einem breiten Grinsen. »Ich hab ihm schon einen Namen gegeben.«
    »Als würde das irgendwas bedeuten.«
    »Sobaka«, rief er und pfiff leise, während er die Schubkarre im hohen Unkraut abstellte, und der Hund lief schwanzwedelnd zu ihm.
    »›Hund‹? Du hast ihn ›Hund‹ genannt? Was für ein Name ist das denn?«
    Leonid stand in der Tür und hielt ihr die Felldecke hin, die, dem Geruch nach zu urteilen, eine lange Geschichte hatte. Seine Ohren waren gerötet. Er grinste in seinen Bart hinein, der über Nacht noch dichter und grauer geworden zu sein schien. Dann nahm er sie in die Arme – harte, starke, sehnige Arme, ganz und gar nicht die Arme eines alten Mannes – und drückte sie an sich. »Was für ein Name das ist? Ein passender Name. Und vielleicht, vielleicht – sofern du dich gut benimmst, Mascha Sischylajewa – werde ich dich ›Frau‹ nennen. Na, was sagst du dazu?«
    Als die Nacht kam und die Petroleumlampe mit kleiner Flamme brannte, schliefen sie wieder im selben Bett, doch diesmal ohne praktische Erwägungen vorzuschieben.
    Die Zeit verging. Die Tage wurden länger. In ihrem Garten wuchsen die Pflanzen aus dem Saatgut, das sie aus Kiew mitgebracht hatte, so kräftig und gesund heran, als stünden sie in jungfräulicher Erde. Leonid zog einen Drahtzaun, den er von einem brachliegenden Feld entliehen hatte, um die Kaninchen fernzuhalten, und erlegte mit der Flinte die Wildschweine, die ihre Kartoffeln ausgraben wollten, und bald hing über dem Garten der Geruch nach geräuchertem Fleisch und lockte eine ganze Menagerie aus Füchsen, Luchsen, Marderhunden, Bären und Wölfen an. Als die Wölfe auftauchten, die es ebensosehr auf die zahlreichen Rehe in der Umgebung wie auf Leonids Wildbret abgesehen hatten, blieb Sobaka in der Nähe des Hauses. Im Lauf der Zeit aber bekam er Fleisch auf die Rippen und verbellte die Eindringlinge wütend. Er war ein hervorragender Mäusefänger, besser noch als die große gestreifte Katze – Gruscha, ja, so hatte sie geheißen –, die Mascha hatte zurücklassen müssen. Im Leben einer Katze waren drei Jahre eine sehr lange Zeit, und alt und an das Leben unter Menschen gewöhnt, war sie gewiss eine leichte Beute für Fuchs oder Habicht oder einen der großen Seeadler geworden, die, mit reglosen Schwingen kreisend, wieder über der Zone erschienen – oder das Gift war ihr zum Verhängnis geworden, ja, ganz bestimmt das Gift. Aber wenn der Hund überlebt hatte, dachte sie unwillkürlich, dann vielleicht auch die Katze. Vielleicht würde Gruscha eines Tages miauend vor der Tür sitzen, als wäre die Zeit stehengeblieben. Wäre das nicht ein Wunder – wie so vieles andere?
    Was ihr nicht aus dem Kopf ging, war die Tatsache, dass das Gift ihr zunehmend nicht wie eine Gefahr, sondern wie ein Segen erschien. Die Regierung, die so viele Bauernhöfe nördlich und östlich von hier kollektiviert und alle
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher