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In der Zone

In der Zone

Titel: In der Zone
Autoren: T. C. Boyle
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Wohnblocks von Pripjat, der Stadt, die dem Kraftwerk am nächsten lag, nach Fernsehern, Stereoanlagen und so weiter suchten, um das giftig strahlende Zeug hinauszuschmuggeln. Ihr war das gleichgültig. Sie sah an Leonid vorbei zu dem Fahrer und dem Uniformierten, die lachten und abwechselnd aus einer Flasche tranken. Jenseits des Wachhäuschens war finstere Nacht, die undurchdringlich schwarze Nacht des Urwalds, in dem es keine Wohnungen, keine Autos, keine Geschäfte gab. »Ich mag ihn nicht«, flüsterte sie. »Ich mag ihn nicht, und ich traue ihm nicht.«
    Im Dämmerlicht des Wageninneren schob sich Leonids große, schwielige Hand zwischen den Vordersitzen hindurch und legte sich ganz leicht auf ihr Knie, und da wurde ihr etwas klar, und sie begann, die Dinge auf die Weise zu verstehen, wie die Frösche in den Gräben sie verstanden. Leonids Taschen, zwei dunkle Bündel, die sein komprimiertes Leben enthielten, lagen zu seinen Füßen. »Alles«, sagte er mit belegter Stimme, »wird gut.«
    Und dann saß der Bandit wieder im Wagen, und das Tor schwang wie von Zauberhand auf. Sie holperten auf einer Straße dahin, die keine mehr war, über tote, vertrocknete Pflanzen hinweg, die hier in vergangenen Jahren gewuchert waren und nun am Bodenblech schrammten und kratzten, sie wichen umgestürzten Bäumen aus, die niemand weggeräumt hatte, weil niemand mehr da war, der sie hätte wegräumen können. Nach kaum zwei Kilometern riss der Bandit plötzlich das Lenkrad herum, so dass der Wagen schleuderte und mit laufendem Motor stehenblieb. »Weiter fahre ich nicht«, sagte er.
    »Aber es sind noch zehn Kilometer bis zum Dorf«, protestierte Leonid. Und dann kam ein bittender Ton in seine Stimme. »Mascha Sischylajewa ist eine alte Frau – du kannst sie doch nicht den ganzen weiten Weg laufen lassen. Durch die dunkle, kalte Nacht.«
    Noch bevor sie überhaupt wusste, dass sie etwas sagen würde, hatte sie die Worte bereits ausgesprochen: »Ich bin zweiundsechzig, und ich will nicht leugnen, dass ich dick bin, aber ich kann weiter laufen als du, Leonid Kowalenko, mit deinen knarzenden Knien und deinen großen, ungeschickten Füßen.« Sie sah vor ihrem geistigen Auge das Haus, das sie und Oleksyj aus geschälten Baumstämmen gebaut hatten, und das Strohdach, auf dem im Frühjahr Wildblumen blühten – und den Ofen, ihren ganzen Stolz, den sie bis zu dem Tag, an dem der Evakuierungsbefehl gekommen war, niemals hatte ausgehen lassen. »Und auch weiter als du«, sagte sie zu dem Fahrer mit der schwarzen Lederjacke, und der Ton ihrer Stimme wurde schärfer, »wie immer du auch heißen magst.«
    Sie hatte nicht daran gedacht, eine Taschenlampe mitzunehmen, aber Leonid hatte eine dabei, und das war gut, denn es schien kein Mond, und die Straße, die sie in Hunderten von Nächten im Traum gesehen hatte, war so gut wie unsichtbar. Für April war es nicht kalt, jedenfalls nicht sonderlich, aber ihr Atem hing wie ein Schleier vor ihrem Gesicht, und sie war froh, dass sie den Pullover und den Wollmantel angezogen hatte. Hier waren die Frösche lauter; sie quakten, als gälte es ihr Leben. Es gab noch andere Geräusche: die unregelmäßigen Schreie der Eulen auf ihren unsichtbaren Warten, ein gelegentliches verstohlenes Rascheln im Unterholz und dann, zu ihrer Überraschung, ein plötzliches lautes, anschwellendes Heulen, wie sie es seit ihrer Kindheit nie auch nur von fern vernommen hatte. »Hörst du das?« fragte sie und stapfte weiter. Die Tragegurte der Taschen schnitten in ihre Schultern.
    »Wölfe«, sagte er schnaufend. Sie hatte in letzter Zeit weite Märsche unternommen, um Kraft und Ausdauer zu bekommen, und war nicht im mindesten müde oder außer Atem, doch nach ein, zwei Kilometern musste sie langsamer gehen, damit Leonid mit ihr Schritt halten konnte. Er keuchte – seine Raucherlunge –, und in diesem Augenblick machte sie sich Sorgen um ihn: Was, wenn er es nicht schaffte? Was sollte sie dann tun?
    »Dann stimmt es also«, sagte sie. »Dass die Tiere zurückkehren.«
    Seine Füße schlurften über das dürre Gras, das die Risse im Asphalt der Straße erobert hatte. »Ich habe gehört, dass es hier jetzt Elche gibt«, sagte er und blieb stehen, um zu verschnaufen. »Ganze Herden von Rothirschen. Wildschweine, Kaninchen, Eichhörnchen. Wie in den Zeiten von Adam und Eva. Oder jedenfalls in den Zeiten unserer Großeltern.«
    Sie stellte es sich vor, während vor ihnen etwas über die Straße huschte. Im Geist sah sie ihr
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