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In der Zone

In der Zone

Titel: In der Zone
Autoren: T. C. Boyle
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Haus wiederhergestellt, ringsum grasten Rehe, die Felder standen in üppigem Grün, Kaninchen sprangen aus dem Fell und geradewegs in den Topf, kaum dass sie ihn auf den Herd gestellt hatte. Doch dann löste das Bild sich auf. »Und was ist mit dem Gift? Es heißt doch, man kann keine Tomate aus dem eigenen Garten essen, geschweige denn ein Kaninchen, das die ganze Zeit hier gelebt hat und –«
    »Lachhaft. Blödsinn, nichts als Gerüchte. Das ist doch bloß ein Vorwand, um uns von hier fernzuhalten. Was glaubst du denn – dass das Fleisch auf dem Teller strahlt? Niemand weiß es, niemand, und wenn du meinst, dass Wilderer sich nicht die Bäuche mit Wildbret und Kaninchen und Gänsen vollschlagen, bist du verrückt. Und wir werden das ebenfalls tun, darauf kannst du dich verlassen. Denk doch nur an all das Wild und all die Fische in den Flüssen und Seen, wo drei Jahre lang niemand war.«
    Sie wollte ihm zustimmen, wollte sagen, dass ihr die Strahlung und alles andere egal waren, weil wir alle sterben müssen, je früher, desto besser, und dass sie nichts weiter wollte als den Frieden des Waldes und ihrer Heimat, wo sie vor vierzehn Jahren ihren Mann begraben hatte, und doch hatte sie Angst. Sie stellte sich Ratten mit fünf Beinen vor, Vögel ohne Flügel, sie stellte sich vor, dass ihr unter den Röcken ein langer pelziger Schwanz wachsen würde, während das Fleisch in der Pfanne glühte, als würde es von innen beleuchtet. Die Nacht wurde noch dunkler. Leonid schnaufte. Sie ging weiter.
    Nach der Explosion, die die Menschen aus dem Schlaf schreckte und den tiefschwarzen Nachthimmel erleuchtete, und der unnatürlichen Dunkelheit der folgenden Tage, die sich zu fast einer Woche addierten, während der sich zahllose Gerüchte verbreiteten und alle, die nicht die Felder bestellten, die Kühe melkten oder in den Obstgärten arbeiteten, vor den Radios saßen, kam der Evakuierungsbefehl, und die Regierung schickte Soldaten, die für die Durchführung sorgen sollten. Der Reaktorkern erhitzte sich wieder, so dass eine zweite Explosion möglich erschien. Der Aufenthalt hier war nicht mehr sicher. Ausnahmslos alle mussten in die Busse steigen, die in die Dörfer geschickt wurden. Und jeder durfte nur zwei Gepäckstücke mitnehmen – das wurde im Radio bekanntgegeben und in den Lautsprecherdurchsagen der Soldaten wiederholt, die mit Jeeps und Armeelastwagen von Haus zu Haus fuhren. Und was ist mit unseren Sachen? fragten die Leute. Was ist mit unserem Vieh, unseren Tieren? Die Regierung versicherte ihnen, dass sie in drei Tagen würden zurückkehren können und dass man auch das Vieh evakuieren werde. Die Regierung sagte allerdings nichts davon, dass die Hunde, zur Vorbeugung gegen Tollwut, allesamt abgeschossen wurden – fast zehntausend in ganz Polesien. Und das Vieh, auch Maschas Milchkuh Rusalka, wurde geschlachtet, und das Fleisch wurde mit dem unkontaminierter Tiere vermischt, als Futter für die glücklicheren Hunde und Katzen in Gegenden, wo es keine Evakuierung gegeben hatte und das Leben weiterging wie immer.
    Sie glaubte der Stimme im Radio. Sie glaubte den Berichten über das unsichtbare Gift. Sie glaubte, was man ihr sagte. Es gab keine Alternative. In ihrem Haus gab es elektrischen Strom – er kam durch einen Draht, der von Mast zu Mast gespannt war, immer weiter, unendlich weit –, doch ein Telefon hatte sie nicht, und so ging sie in jener Woche der Ungewissheit, als niemand irgend etwas wusste, zu den Melnitschenkos, um – gegen Bezahlung – deren Apparat zu benutzen. Und was hatten die Melnitschenkos gehört? Dass die nördlich von ihnen gelegene Stadt Pripjat verlassen sei und man sämtliche 49000 Einwohner in Busse verfrachtet und weggebracht habe; aber darüber hinaus wussten sie genausowenig wie sie selbst. Sie stand am Ofen im Wohnzimmer der Melnitschenkos, dessen aus behauenen Baumstämmen bestehende Wände wie die ihres eigenen Hauses mit Ikonen und bunten, aus Zeitschriften gerissenen Fotos dekoriert waren, und telefonierte mit ihrem Sohn Nikolai, der Professor für Sprachwissenschaften in Charkow war. Er würde wissen, was zu tun war. Er würde die Wahrheit wissen. Leider kam aus dem Hörer nur ein Summen, und als der Bus vor ihrer Tür stand, nahm sie ihre zwei Taschen, stieg ein und setzte sich zu ihren Nachbarn.
    Und so ging sie jetzt in den dunkelsten Stunden der Nacht durch eine unheimliche Gegend, die einzige, in der sie je hatte leben wollen. Sie stapfte mit Leonid Kowalenko auf einer
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