Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition)
Autoren: Dennis Lehane
Vom Netzwerk:
über ihre Lippen, als könne sie durch ihr Schweigen wenigstens einen Teil ihrer Macht über ihn erhalten.
    Es war eine Art von Trotz, wie er sonst nur alten Maultieren eigen war. Oder sehr verwöhnten Kindern.
    »Mach’s gut«, sagte er noch einmal und ging, ohne noch einmal einen Blick zurückzuwerfen, ohne den kleinsten Anflug von Reue zu empfinden.
    Es war alles gesagt.
    Der Juwelier teilte ihm zögernd mit, dass er die Uhr leider in die Schweiz schicken müsse.
    Joe unterzeichnete den Reparaturauftrag, nahm die detailliert ausgefüllte Quittung des Juweliers entgegen und verließ den Laden.
    Und dann stand er auf den alten Pflastersteinen in der Altstadt von Havanna, einen Moment lang ohne jede Ahnung, was er als Nächstes tun sollte.

28
    Wie spät es war
    Alle Jungs, die auf der Plantage arbeiteten, spielten Base ball, aber einige von ihnen hatten das Spiel zur Religion erhoben. Als die Erntezeit kam, fiel Joe auf, dass sich ein paar von ihnen die Fingerspitzen mit Pflaster umwickelt hatten. »Wo haben sie denn das her?«, fragte er Ciggy.
    »Oh, davon haben wir jede Menge«, sagte Ciggy. »Als Machado noch an der Macht war, haben sie mal ein Ärzteteam hierhergeschickt, zusammen mit ein paar Reportern, um der Welt zu zeigen, wie sehr Machado seine Bauern am Herz lagen. Doch kaum waren die Reporter wieder weg, verschwanden auch die Ärzte. Ihre ganze Ausrüstung nahmen sie natürlich mit. Aber von diesem Pflaster haben wir einen Karton behalten. Für die Jungs eben.«
    »Wozu?«
    »Wissen Sie, wie man Tabak trocknet?«
    »Nein.«
    »Wenn ich es Ihnen erkläre, hören Sie dann auf, dämliche Fragen zu stellen?«
    »Vermutlich nicht.«
    Die Tabakpflanzen waren mittlerweile größer als die meisten Männer, ihre Blätter länger als Joes Arm. Er erlaubte Tomas nicht länger, auf den Tabakfeldern herumzurennen, aus Angst, er könne verlorengehen.
    Die Ernte begann mit der Ankunft der Helfer, größtenteils älteren Jungs. Sie pflückten die bereits reifen Blätter und stapelten sie auf hölzernen Schlitten, die von Maultieren gezogen wurden. Waren die Schlitten voll, wurden sie an Traktoren gehängt, die sie zur Trockenscheune am Westrand der Plantage brachten. Diese Arbeit überließ man den jüngsten Burschen, die noch halbe Kinder waren.
    Als Joe eines Morgens auf die Veranda trat, tuckerte ein höchstens sechsjähriger Junge auf einem Traktor an ihm vorbei. Auf dem Anhänger stapelten sich die Tabakblätter meterhoch. Der Junge grinste, winkte und tuckerte weiter.
    Vor der Trockenscheune wurden die Blätter im Schatten der Bäume abgeladen. Dann begannen die Jungs – allesamt mit abgeklebten Fingerspitzen –, die Tabakblätter zu bündeln und mit festem Zwirn an langen Holzstangen aufzuhängen. Die Arbeit an diesen Trockengerüsten verrichteten sie von sechs Uhr morgens bis acht Uhr abends; Baseball fiel während dieser Wochen aus. Der Zwirn musste fest angezogen werden, und mit der Zeit schnitt der Faden in die Haut; dagegen half das Klebeband, erklärte Ciggy.
    »Sobald die ganze Scheune voller Tabak hängt, patrón , von einem Ende bis zum anderen, können wir uns fünf Tage ausruhen, während die Blätter trocknen. In der Zeit werden erst mal nur zwei Mann gebraucht: einer, der für das Feuer verantwortlich ist, und einer, der den Feuchtigkeitsgehalt der Luft überwacht. Dann können die Jungs wieder Baseball spielen.« Er berührte Joe kurz am Arm. »Natürlich nur, wenn Sie damit einverstanden sind.«
    Joe stand draußen vor der Trockenscheune und sah den Jungs dabei zu, wie sie die Tabakblätter bündelten. Unablässig mussten sie dabei die Arme heben und nach oben strecken, um die Blätter festzubinden – und das vierzehn volle Stunden lang, jeden Tag. Er warf Ciggy einen genervten Blick zu. »Klar bin ich damit einverstanden. Verdammt, diese Arbeit ist eine Zumutung!«
    »Ich habe das sechs Jahre lang gemacht.«
    »Wie haben Sie das durchgehalten?«
    »Ich hungere nicht gern. Sie?«
    Joe verdrehte die Augen.
    »Tja, noch einer, der nicht gern mit leerem Magen herumläuft«, sagte Ciggy. »Hunger ist kein Spaß – darüber dürfte sich ausnahmsweise mal die ganze Welt einig sein.«
    Am nächsten Tag holte Joe seinen Vorarbeiter aus der Trockenscheune, wo er das Aufhängen der Tabakbündel beaufsichtigte. Es war wichtig, genug Platz zwischen den Stangen zu lassen, damit Luft an die Blätter kam. Sie liefen über die Felder bis ans östliche Ende der Plantage, wo sich das wertloseste Stück Land
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher