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In der Nacht (German Edition)

In der Nacht (German Edition)

Titel: In der Nacht (German Edition)
Autoren: Dennis Lehane
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einen Preis und vereinbarten, dass er in einer Woche nach Arcenas kommen würde, um die Fenster auszubessern, die Graciela hatte retten können.
    Anschließend sah Joe bei einem Juwelier in der Avenida de las Misiones vorbei, den Meyer Lansky ihm empfohlen hatte. Die Uhr seines Vaters, die nun bereits seit einem Jahr nachging, war vor einem Monat komplett stehengeblieben. Der Juwelier, ein Mann mittleren Alters mit scharfen Gesichtszügen, der ununterbrochen blinzelte, nahm die Uhr entgegen, öffnete den hinteren Deckel und erklärte Joe, dass selbst eine so exquisite Uhr regelmäßig gewartet werden musste und nicht bloß alle zehn Jahre. »Werfen Sie mal einen Blick auf all die Rädchen hier«, sagte er zu Joe. »Das Getriebe muss dringend mal wieder geölt werden.«
    »Wie lange dauert das?«, fragte Joe.
    »Das weiß ich nicht genau«, sagte der Mann. »Dazu muss ich das Getriebe genauer unter die Lupe nehmen.«
    »Kein Problem«, sagte Joe. »Also, wie lange?«
    »Wenn es nur ums Nachölen geht, vier Tage.«
    »Vier«, wiederholte Joe, während er ein Flattern in seiner Brust verspürte, als wäre gerade ein kleiner Vogel durch seine Seele geflogen. »Geht das nicht irgendwie schneller?«
    Der Juwelier schüttelte den Kopf. »Sehen Sie, wie filigran die Mechanik ist? Wenn sie nur den kleinsten Defekt hat, bleibt mir keine andere Wahl, als die Uhr zur Reparatur in die Schweiz zu schicken.«
    Einen Moment lang blickte Joe aus dem verdreckten Fenster auf die staubige Straße. Er zückte seine Brieftasche, zählte hundert Dollar ab und legte die Banknoten auf den Ladentisch. »In zwei Stunden schaue ich noch mal vorbei. Und dann möchte ich Ihre Expertise hören.«
    »Meine was?«
    »Bis dahin können Sie mir ja wohl sagen, ob Sie die Uhr tatsächlich in die Schweiz schicken müssen.«
    »Ja, Señor. Ja.«
    Nachdem er den Laden verlassen hatte, schlenderte er durch die Altstadt von Havanna, ließ sich einmal mehr von Pracht, Sinnlichkeit und Verfall bezaubern. Während seiner letzten Besuche war ihm bewusst geworden, dass Habana nicht bloß irgendeine Stadt war, sondern der Traum von einer Stadt. Ein Traum, der in der Sonne vor sich hin dämmerte, sich in seiner satten Trägheit, im aufreizenden Rhythmus seiner eigenen Agonie treiben ließ.
    Er bog um eine Ecke, anschließend noch um zwei weitere Ecken, und dann stand er vor Emma Goulds Bordell.
    Die Adresse hatte ihm Esteban vor gut einem Jahr gegeben, am Vorabend des Gemetzels, dem Albert White, Maso und Digger, Sal, Lefty und Carmine zum Opfer gefallen waren. Schon auf der Fahrt nach Havanna war ihm klar gewesen, dass er bei ihr vorbeisehen würde, doch hatte er es sich nicht eingestehen wollen, weil ihm sein Vorhaben schlicht albern und unsinnig erschien, und er war schon lange kein Mann mehr, der sich auf törichte Dinge einließ.
    Vor dem Eingang des Puffs stand eine Frau, die gerade Scherben und Splitter von letzter Nacht mit einem Wasserschlauch vom Gehsteig spritzte. Ein breites Rinnsal schlängelte sich die Gasse entlang. Als sie aufsah und ihn erkannte, zitterte der Schlauch in ihrer Hand einen Moment, auch wenn sie ihn nicht fallen ließ.
    Man konnte nicht sagen, dass die Jahre sie gezeichnet hätten, doch waren sie auch nicht eben gnädig mit ihr umgesprungen. Sie sah aus wie eine schöne Frau, die von ihren Lastern nicht wiedergeliebt worden war, wie eine Frau, deren Faible für Zigaretten und Alkohol deutliche Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen hatte. Um ihre Augen hatten sich Krähenfüße gebildet, und die harten Linien um ihren Mund waren nicht zu übersehen. Trotz der schwülen Hitze wirkte ihr Haar spröde und trocken.
    Sie hob den Schlauch und machte sich wieder an die Arbeit. »Sag, was du zu sagen hast.«
    »Willst du mir nicht mal ins Gesicht sehen?«
    Sie wandte sich um, ohne den Blick vom Gehsteig zu heben, und er trat beiseite, damit seine Schuhe nicht nass wurden.
    »Wie war das damals? Kleiner Unfall, und du hast gedacht, das kommt mir jetzt aber verdammt gelegen?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Nein?«
    Erneut schüttelte sie den Kopf.
    »Was dann?«
    »Als die Cops hinter uns her waren, habe ich dem Fahrer gesagt, er soll den Wagen von der Brücke lenken. Aber er wollte einfach nicht hören.«
    Abermals trat Joe dem Wasserstrahl aus dem Weg. »Und weiter?«
    »Ich habe ihm einen Kopfschuss verpasst, und dann sind wir ins Wasser gestürzt. Und dann bin ich ans Ufer geschwommen, und kurz darauf war Michael bei mir.«
    »Welcher
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