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In den Spiegeln - Teil 2 - Evelyn

In den Spiegeln - Teil 2 - Evelyn

Titel: In den Spiegeln - Teil 2 - Evelyn
Autoren: Ales Pickar
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war seit Jahren tot. Er war betrunken auf den Zuggleisen in der Nähe von Brünn eingeschlafen und somit kaum von Dr. Bondy durchs Telefonbuch auffindbar. Der Mann musste also von alleine aufgetaucht sein und sich als mein Onkel ausgegeben haben.
    Es gab in meinem Leben keine Erfahrung, die dieser hier ähnelte. Eine trockene, raue Empfindung von Sein und Nichtsein. Schmerzhaft. Wie das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Ich weiß nicht, wie andere Menschen auf die Mitteilung reagieren, dass sie bis an ihr Lebensende nicht wieder gehen werden. Oder dass sie nur noch Monate zu leben haben. Mein »Krisenschock« war das ständige Gefühl, dass das Krankenzimmer schief steht und das Bett mit mir langsam wegrutscht. Jede einzelne Sekunde fühlte sich wie eine Falle an. Als ob ich im Begriff war, den restlichen Verstand, den ich noch besaß zu verlieren. Ich fühlte mich machtlos.
    Ich fand Leute in Rollstühlen stets bewundernswert. Sie waren geschickt und irgendwie auch exzentrisch. Aber deswegen hat man noch lange keine Lust, es ihnen gleichzutun. Immer wenn ich an einem Menschen im Rollstuhl vorbeiging, dachte ich sofort an etwas positives, in einer instinktiven Angst, dass gerade jene Dinge im Leben eintreten könnten, mit denen man in Gedanken nicht ausgesöhnt ist. Esoterische Folklore. Egozentrische Scheiße. Ich hatte mich stets gefragt, ob schwangere Frauen das tun, wenn sie an einem behinderten Kind vorbeigehen und Autofahrer, wenn sie an einem brennenden Auto vorbeirasen. Wir Menschen sind verwickelt in heimliche Wünsche und daraus resultierende Schuldgefühle. Verzahnt in das beschleunigende Getriebe der Weltflucht, die Welt eilig im Vorbeigehen aufnehmend. Es gibt keine Zeit, um behinderte Kinder kennenzulernen und bei brennenden Autos anzuhalten. Wir sind nicht einmal mehr neugierig. Wir kreuzen einfach nur die Finger oder sprechen ein obszönes Gebet.
    Doch nun stand die Zeit still.
    Selbstmord? Ich hatte diesen Gedanken. Sofort und in der ersten Sekunde.
    Aber dann stellte ich fest, dass an meinem Krankenbett, das sich in dem Augenblick eher wie ein Totenbett anfühlt, Onkel Dieter sitzt — ein Mann, den ich niemals zuvor gesehen hatte.
    Eine lächerliche Situation. Ich begann mich an die Stunden und Minuten vor dem »Nichts« zu erinnern. Evelyn, die plötzlich Talitha wurde und von sich selbst in dritter Person sprach und Tina, die plötzlich Patrice hieß. Laura, mit kalten Katzenaugen wie Ozeane.
    Die Antworten zeichneten sich klar ab. »Onkel Dieter« war hier, um mich zu erledigen, weil es in meiner Wohnung nicht geklappt hatte. Weil es der Katze zwar gelungen war, das halbe Haus in die Luft zu jagen, bei ihrem Primärziel hatte sie dennoch versagt.
    Nun war es vielleicht an der Zeit, dem Arzt zu erklären, dass dieser unbekannte Mann eigentlich ein Killer war, der es auf mich abgesehen hatte. Dr. Bondy hätte vermutlich eine Art von Schockreaktion diagnostiziert und Onkel Dieter erst mal hinaus gebeten... Doch was dann? Ohne funktionierende Beine bestand keine Aussicht auf Flucht.
    Ich spürte, dass ich irgendwie nicht wünschte, dass die »Guten« mich nun vor den »Bösen« retteten. Ständig werden wir in unserem Leben gerettet und geborgen — beschützt vor dem kalten Winter da draußen. Aber hier sollte es vorbei sein. Ich wollte nicht gerettet werden. Ich wollte, dass der Arzt ging. Ich wollte, dass der andere Mann es beendet. Noch einmal versuchte ich meine Beine zu bewegen und erfuhr dieses seltsam schmerzende Gefühl von Nichts.
    »Ich wäre jetzt gerne mit meinem Onkel allein«, erklärte ich Dr. Bondy.
    »Fühlen Sie sich fit für Besucher?« Er lächelte zufrieden, fast etwas erfreut darüber, dass ich offensichtlich nicht mehr die Schranke der Amnesie zwischen mich und meinen Verwandten stellte.
    Ich nickte leicht. Augenblicke später war der Arzt aus dem Zimmer und ich mit dem unbekannten Mann allein. Mein ganzer Körper tat weh. Sogar jene Körperteile, die ich eigentlich nicht mehr spüren sollte, schmerzten irgendwie. Ich hatte einen Grad an Verwirrung und Verzweiflung erreicht, der nicht mehr steigerbar war. Die Lawine aus Fragezeichen, die vor einem Jahr begonnen hatte auf mich einzuschlagen, schien mich am Ende nun doch zu ersticken.
    »Du willst mich töten, also mach schon.« Ich duzte ihn trotzig, obwohl er deutlich älter war.
    Der Mann war hager und hatte nicht mehr viele Haare am Kopf. Die Sechzig war ihm näher als die Fünfzig. Er trug eine recht starke Brille, und sein
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